Argus #5
Sie: Wenn es nichts taugt …»
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B ill Bantling betrachtete das hübsche Gerichtsgebäude mit seinem gewaltigen Eingangstor und der pittoresken Turmuhr. Sorgsam gepflegter Rasen, bunt blühende Blumenbeete. Gedrechselte Holztüren, durch die Touristen wie er ein und aus gingen, um die baulichen Besonderheiten zu bewundern. Er atmete tief ein und füllte seine Lungen mit der frischen Berg- und Seeluft.
Sie war ja weit gekommen seit Südflorida. Das Strafgericht von Miami war vergleichsweise ein architektonischer Schandfleck. Eine Bausünde aus den Sechzigern, die beim besten Willen nicht mehr verschönert oder modernisiert werden konnte, egal, wie viel Geld der Steuerzahler hineinpumpte. Dort gab es keine Touristen, die Fotos von den hässlichen Aufzügen machten, und auch keine Führungen, die von reizenden, hilfsbereiten Senioren angeboten wurden. Das Gericht von Miami-Dade County war ein überfülltes, chaotisches Auffangbecken für Verbrecher und Immigranten, die größtenteils nie Bekanntschaft mit einem Deo gemacht hatten und im Leben gegen nichts geimpft worden waren. Und nach seinem letzten Kurzaufenthalt im Bezirksgefängnis konnte Bill mit Gewissheit sagen, dass sich seit seinen früheren Besuchen nicht viel verändert hatte.
Er stocherte sich mit einem Streichholzbriefchen zwischen den falschen Zähnen, während die anderen Touristen im historischen Saal mit den Wandgemälden, den ihr Führer voller Stolz als «Schmuckstück des Gerichtsgebäudes» anpries, in «Oooh!» und «Aaah!» ausbrachen. Doch Bill hatte keine Bewunderung für die großartigen Darstellungen von Szenen aus der kalifornischen Geschichte übrig; seine Gedanken führten ihn in den Gerichtssaal direkt über ihnen.
In der Nacht zuvor hatte sie kein Auge zugetan. Chloe. Sie hatte sich von einer Seite auf die andere gewälzt. War alle Stunde aufgesprungen, um nachzusehen, ob die Fenster verschlossen waren, die Türen, dann wieder die Fenster. Offenbar hatte sie bereits von seiner Flucht gehört. Und nun lugte sie durch Omas vergilbte Spitzengardinen in die Nacht hinaus und fragte sich – da war er sicher –, ob der große böse Wolf irgendwo da draußen lauerte, auf sie wartete in dem dunklen Wald gleich hinter dem Haus. Ob er sich die Lefzen leckte, die Klauen schärfte und wartete – auf den richtigen Moment, um zu kommen und sie aufzufressen.
Das verschlafene Goleta war nicht wie Queens in New York, in der Stadt, die niemals schlief. Und nie ihre Lichter löschte. In den Bergen Kaliforniens gingen die Leute schlafen, wenn es Nacht wurde, dann war es stockdunkel, und man sah tatsächlich Sterne am Himmel. Das hatte ihm gefallen: im Dunkeln zu liegen, während die Sterne über ihm funkelten, die Hand an seinem Schwanz, und sich seinen schweinischen Phantasien hinzugeben, in denen Chloe nur in Omas Spitzengardinen gehüllt war. Bevor er ins Gefängnis gekommen war, hatte er sich nicht viel aus Sternen gemacht, aber während der Zeit in dieser Jauchegrube hatte er nachts oft davon geträumt, die Sterne zu sehen, wahrscheinlich, weil man ihm ständig einredete, er würde sie nie wieder sehen. Und auch keine Sonne mehr auf der Haut spüren. Natürlich hatte er sich, gleich als er in L.A. aus dem Bus gestiegen war, als Erstes ein Stück Strand gesucht und sich einen Sonnenbrand geholt. Aber schon nach ein paar Minuten im dunklen Wald, allein mit sich und seinen alten Phantasien, hatte er genug gehabt. Die blöde Sternglotzerei war nur ein weiterer Punkt auf der Liste der Dinge, um die ihn die Schlampe in den letzten zehn Jahren betrogen hatte, und sein Ständer fiel schnell in sich zusammen. Wut trat an die Stelle süßer Erinnerungen.
Kein Auge hatte sie zugemacht. Aber abgehauen war sie auch nicht. Als es Morgen wurde, hatte sie ihr schwarzes Kostüm angezogen, sich ihre dicke Aktentasche und ihren gemeingefährlichen Köter geschnappt und war zum Gericht gefahren, um einem anderen armen Teufel das Leben zu ruinieren. Wahrscheinlich hatte sie beschlossen, dass sie paranoid war. Dass sie sich zu viele Sorgen machte. Redete sich ein, dass er sie hier, im verschlafenen Goleta am anderen Ende des Landes, niemals finden würde. Oder dass er seine kostbare Freiheit nicht darauf verschwenden würde, nach ihr zu suchen. Oder dass er sie längst gefunden hätte, wäre er wirklich auf der Suche nach ihr – in den Nachrichten wurde ja berichtet, dass er schon seit Wochen auf der Flucht war –, und folglich bestimmt nicht nach ihr
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