Argus #5
nicht überzeugt. Er griff nach der Zigarette hinter seinem Ohr. «Ich rufe Sie morgen nach der Grand Jury an, wobei ich sicher bin, dass Sie vorher bei Guy durchklingeln, um zu hören, wie ich mich benommen habe.»
Daria wartete, bis die Tür zu war, dann ließ sie den Kopf in die Hände sinken. Sie wollte schreien. Sie hörte, wie Manny von jedem begrüßt wurde, als er draußen den Flur hinunterging, bis er endlich weg war.
Der Fall Talbot Lunders hatte eindeutig Schlagzeilen-Potenzial. Wenn ihr das bisher nicht klar gewesen war, so wusste sie es jetzt. Die Vergewaltigung und Ermordung einer hübschen College-Studentin durch ein privilegiertes männliches Ex-Model war schon aufregend genug und auch ohne weitere schlüpfrige Details schwer unter Verschluss zu halten. Fügte man dem Ganzen noch eine mysteriöse E-Mail, ein selbstgemachtes Bondage-Video, ein geheimes Familienchalet in der Schweiz und die verzweifelte, gutangezogene, junge, sexy Schickeria-Mutter des Beschuldigten hinzu, die behauptete, identische Blondinen würden von dem echten Mörder gejagt und gefoltert, um den die Polizei sich nicht kümmerte, dann hatte man alle Zutaten für eine landesweite Nachrichtensensation. Ein ausgebuffter Reporter würde die Sache jeder Frühstückstalkshow als die perfekte Story verkaufen. Für Daria war es eher der perfekte Sturm.
Nach fünf Jahren bei der Staatsanwaltschaft, in denen sie alles vom Ladendiebstahl bis zum Mord geahndet hatte, hatte Daria gewusst, dass sie zur Abteilung für Sexualdelikte wollte. Und sie wollte nicht eine Anklägerin unter vielen sein – sie wollte die Abteilung leiten. Sie hatte ganz unten angefangen, wie man so sagte. Sie hatte Jahre ganz unten verbracht, hatte miese Fälle vertreten und gewonnen, und in den letzten zwei Jahren war sie Referatsleiterin in einem der überfülltesten Bereiche der Staatsanwaltschaft gewesen und hatte drei Ankläger unter sich gehabt, bei einer Auslastung von über vierhundert Fällen. Ein gewöhnlicher Assistant District Attorney hielt es auf der staatlichen Gehaltsliste drei Jahre aus, bevor er sich nach grüneren Weiden umsah; alle, die es mehr als fünf Jahre aushielten, wurden «Veteranen» genannt. Und bei den Veteranen gab es die, die wegen des monatlichen Schecks und der Sozialleistungen blieben, ihre Acht-Stunden-Schichten in den Schützengräben der Strafverfolgung absolvierten, Zeugenaussagen aufnahmen und Beschlüsse ausfüllten oder sich hinter einem Berg von Papierkram verschanzten, warm und geborgen in irgendeiner langweiligen Spezialabteilung oben im vierten Stock, bei den Wirtschaftsverbrechen oder Ähnlichem.
Und dann gab es da noch die Veteranen, die nach Höherem, Besserem strebten.
Daria gehörte zur letzten Gruppe. Obwohl sie nie bewusst die Entscheidung getroffen hatte, ihre gesamte juristische Karriere als Anklägerin zu verbringen, hatte sie – abgesehen von der Möglichkeit, zur Bundesstaatsanwaltschaft zu wechseln – bisher nie den Impuls verspürt, Bewerbungen rauszuschicken. Wer schon mal einen Vergewaltiger für dreißig Jahre in den Knast geschickt hatte, konnte sich schwer wegen eines verstauchten Knöchels im Supermarkt ereifern. Das Gleiche galt für Konkursrecht, Gesellschaftsrecht, Versicherungsrecht und für das Läuten der ehelichen Totenglocken als Scheidungsanwältin. Daria, von klein auf leidenschaftlicher Fan von Polizei-, Anwalts- und FBI-Serien, hatte schlicht das Gefühl, zur Anklägerin geboren zu sein. Anders als ihre Brüder – von denen einer in der Verwaltung eines Krankenhauses arbeitete und der andere Achtklässler in Chemie unterrichtete – ging sie jeden Morgen gerne zur Arbeit. Und sie hatte sich in ihrem Job noch keine Sekunde gelangweilt. Oft machte er sie traurig, häufig wütend, aber langweilig war es nie. Was allerdings nicht hieß, dass sie als überarbeitete, unterbezahlte kleine Referatsleiterin in Rente gehen wollte.
Um Vance Collier und dem Rest zu beweisen, dass sie eine Veteranin mit Zukunft war, hatte sie nicht nur die Fälle verhandelt, die viele der anderen ASAs abgelehnt hatten, sondern an Wochenenden gearbeitet, sich außer der Reihe freiwillig für Bereitschaftsdienste gemeldet und ohne Murren Haftprüfungstermine an Feiertagen übernommen. Jeden Tag kam sie früh und ging spät, mit neidischem Blick auf die Uhr und ihre Kollegen, wenn um 16 Uhr 30 die Masse der Verwaltungsmitarbeiter zum Fahrstuhl stürmte und um 17 Uhr 30 die meisten Ankläger ihnen folgten. Manche
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