Argwohn: Thriller (Solveigh Lang-Reihe) (German Edition)
er schließlich. »Wo kommst du denn her?«
Lila war wie erstarrt, als der Mann über die Theke griff, um ihr das Essen wieder abzunehmen. Lila zog ihre Hand zurück und biss in das Sandwich.
»Hey!«, sagte der Mann. Dann rannte Lila los.
Zwei Straßenecken weiter blieb sie stehen. Ihr Herz pumpte. Sie blickte zurück. Niemand folgte ihr. Alles war wie vorher. Niemand beachtete sie. Und doch fühlte sich nichts wie vorher an. Sie hatte zum ersten Mal in ihrem Leben etwas gestohlen. Lila sank mit dem Rücken an der Wand eines Hauses in die Knie und biss zum zweiten Mal in das, was der Mann Döner genannt hatte. Es schmeckte noch viel besser, als es gerochen hatte. Ob es 100 Lei wert war? Lila musste unbedingt den Wechselkurs herausfinden. Es konnte ebenso gut sein, dass der Mann das Geschäft seines Lebens gemacht hatte. Das machte aber zumindest den Tatbestand des Diebstahls wett, oder nicht? Wenn ein Döner 100 Lei kostete, dann würde sich Lila nicht viele Mahlzeiten leisten können. Sie besaß etwa neun Scheine wie den, den sie gerade für eine einzige Mahlzeit ausgegeben hatte. Das bedeutete neun Tage. Und da niemand hier ihr Geld zu akzeptieren schien, möglicherweise noch weniger.
Als sie den letzten Bissen Brot heruntergeschlungen hatte, wusste Lila eines ganz sicher: Das Wörterbuch brauchte sie nicht am allerdringendsten. Sie brauchte Geld. Viel Geld. Als das beißende Hungergefühl nachgelassen hatte, zählte Lila ihre nutzlosen Scheine. Noch 950 Lei. Und keine Ahnung, wie es weitergehen würde. Sie fing an zu weinen. Nicht, weil sie traurig war, sondern aus Verzweiflung. Wie sollte sie Ioana in diesem Gomorrha jemals wiederfinden? Wo würde sie anfangen, selbst wenn sie es schaffte, zu Geld zu kommen? Sie wollte gerade den Umschlag zurück in ihre Tasche stecken, als ein Mann eine Münze hineinfallen ließ. Lila blickte auf, aber der Mann war schon weitergeeilt. Sie hörte die Absätze seiner Lederschuhe auf dem Marmor der Einkaufspassage hinter ihr. Lila betrachtete die Münze. Auf der Rückseite war eine Harfe abgebildet, und sie hatte einen äußeren Kranz aus Silber und eine Mitte aus Gold. Ein Fremder hatte ihr soeben zwei Euro geschenkt. Auf einmal erinnerte sich Lila, dass sie Bettler in den Straßen gesehen hatte, in denen keine Autos fuhren. Wenn es so einfach war, hier Geld zu verdienen, hatte sie vielleicht doch eine Chance. Sie wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln und steckte ihre Reserve in dem Umschlag zurück in die Tasche. Hatte nicht Betteln immer auch etwas mit Aufmerksamkeit zu tun? Sie musste auffallen, ihnen einen Grund dafür geben, ausgerechnet ihr etwas zuzustecken. Lila breitete ihrer Lederjacke auf dem Boden aus und setzte sich darauf. Dann begann sie zu singen. Es war das Lied, das Ioana bei dem Mittsommerfest gesungen hatte. Eine alte moldawische Volksweise. Ein Kinderlied. Aber es klang sehr schön. Und es erinnerte sie an zu Hause.
KAPITEL 68
München, Deutschland
Samstag, 27. Juli 2013, 22.09 Uhr (sechs Stunden später)
Normalerweise war am Samstag in seinem Stammlokal etwas weniger Betrieb als am Freitag, aber heute schien die ganze Stadt auf den Beinen zu sein. Paul Regen stand in der hintersten Ecke der Bar und betrachtete über sein Bierglas das bunte Treiben – und Lisa Wochinger, der er den einzigen freien Barhocker angeboten hatte. Sie hatte Ausgang, weil der Polizeidirektor sich auf einem Empfang des Innenministeriums die Beine in den Bauch stehen musste. Paul Regen sollte es recht sein. Es war lange her, dass er und Lisa an einem Wochenende ausgegangen waren. Einzig die Tatsache, dass er nicht wusste, wohin das führen sollte, bereitete ihm Bauchschmerzen. Vermutlich hatte er sie nur angerufen, weil er befürchtete, dass die Chipstapel auf dem Schreibtisch ihres Mannes gemeinsam mit Paul Regens Leben auf sein fettes Konto wandern würden.
»Wie läuft es eigentlich mit deinem Arm?«, fragte Lisa Wochinger, während sie versuchte, die Minzblätter ihres Hugos beim Trinken von ihren Augen fernzuhalten.
»Gute Frage«, sagte Paul Regen. Er wollte mit Lisa nicht über die Arbeit reden. Und vor allem nicht über Klaus Wochinger. »Wir haben eine Theorie, wie die Fälle zusammenhängen.«
»Das heißt, du hast gewonnen!«, sagte Lisa.
»Theoretisch …«, korrigierte Paul.
»Und was steckte nun dahinter?«
Am anderen Ende der Bar läutete jemand eine Glocke, was bedeutete, dass Schnaps aufs Haus getrunken werden sollte.
»Willst du einen
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