Argwohn: Thriller (Solveigh Lang-Reihe) (German Edition)
werden es schon herausfinden.
KAPITEL 12
Iliciovca, Moldawien
Samstag, 15. Juni 2013, 18.58 Uhr (am selben Tag)
Um genau neunzehn Uhr am Samstagabend standen zwölf junge Mädchen in ihren Trachten hinter dem Gemeindezentrum und warteten darauf, dass die Musik aufspielte. Sie trugen Gräser und Blumen im Haar, die meisten sahen aus wie Lila und Ioana. Nur die Tochter des Bestatters aus Drochia war grell geschminkt. Er konnte es sich leisten und ließ sie bei allen Dorffesten antreten, obwohl sie eigentlich in der Stadt wohnten, wo Lila und Ioana zur Schule gingen. Aber da er die Preise für seine Dienstleistung individuell festsetzen konnte, wollte ihm niemand den Gefallen verwehren. Auch niemand aus Iliciovca. Lila hörte die Männer im Inneren grölen und lachen, sie feierten seit dem frühen Nachmittag. Es hatte heute schon Bewertungen für die schönste Milchkuh und den prachtvollsten Hahn des Orts gegeben. Die Mädchen waren das Highlight des Fests. Lila wusste, dass Großvater und Großmutter zwischen ihren Nachbarn saßen, um ihr Beifall zu klatschen. Ioanas Verwandte hatten einen ganzen Tisch für sich reserviert. Radu hatte für das Fest Geld geschickt. Er wollte seiner Cousine beim Gewinnen zusehen. Lila nahm Ioanas Hand. Sie sah atemberaubend aus, selbst in der einfachen Tracht. Ihr dunkles Haar trug Ioana zu einem kunstvollen Kranz geflochten, in dem rote Mohnblumen steckten. Sie selbst hatte sich für Margeriten entschieden. Eine einfache Blume mit einer schönen Form. Wie sie. Lila war die Außenseiterin, aber sie musste zugeben, dass Ioana und ihre Großmutter Wunder gewirkt hatten. Sie sah bei Weitem nicht so dünn aus, wie sie war, und die Margeriten passten zu ihrem blonden Haar, das ausnahmsweise nicht strohig wirkte. Die Musik spielte. Ioana drückte ihre Hand, und sie gingen hinein.
Das Gemeindezentrum gehörte der Kirchengemeinde und wurde für jedes Dorffest genutzt. Es war nicht viel mehr als eine baufällige große Halle mit einem roten Dach, aber es bedeutete für das Dorf den Erhalt ihrer Gemeinschaft in schwierigen Zeiten. Natürlich kannte Lila alle, die dort an den Tischen saßen. Sie lief vorbei an ihren Nachbarn, den Großeltern von Bence, der zwischen ihnen saß und sich das mit dem Ziegenbock hoffentlich noch einmal überlegen würde. Lila hielt den Kopf hoch erhoben, sie schaute nicht nach rechts oder nach links. Sie wollte mit Haltung untergehen. Ganz vorne saßen der Vorsteher der Mühle mit seiner Frau und der Bestatter aus Drochia. Das war der Tisch mit den Reichen. Das wäre sogar aufgefallen, wenn sie nicht lauter und besser gekleidet gewesen wären – es war der einzige Tisch, an dem Jugendliche und unter Fünfzigjährige zusammensaßen. Die Einzigen aus der Generation ihrer Eltern, die es sich leisten konnten, hier zu bleiben. Lila und Ioana reihten sich auf der Bühne in einen Kreis, sie tanzten eine Hora, einen traditionellen Reigen. Es war wichtig, den Kopf exakt im richtigen Moment gegen die Bewegung des Körpers einzusetzen, was deutlich komplizierter war, als es aussah. Lila versuchte, einen Blick auf ihre Großeltern zu erhaschen, aber ihr Kreis drehte sich ständig weiter um sich selbst. Auch Ioanas Großeltern und ihre Brüder konnte sie nicht ausmachen. Dort würde auch Radu sitzen. Radu aus Bukarest. Nach der Hälfte der Liederfolge würde ein Säckchen aus Samt an den Tischen herumgereicht, in den jeder einen Stimmzettel legen durfte. Die Musik endete in frenetischem Applaus, der den ganzen Saal ausfüllte. Einzelne Namen wurden gerufen, und auch einige Blumensträuße flogen auf die Bühne. Es war ein großartiges Gefühl, dort zu stehen. Lila spürte ein Kribbeln in der Magengegend. Es musste so etwas wie Stolz sein. Eine Bühne und ein Publikum können ein Gefühl erzeugen, das mit nichts vergleichbar ist, hatte ihre Musiklehrerin immer gesagt. Die Mädchen stellten sich in einer Reihe auf, und der Bestatter kam auf die Bühne. Er wirkte sehr weltmännisch in seinem glatten Anzug und mit der Krawatte. Lila überlegte, dass in Drochia wohl der Bürgermeister das Mittsommerfest moderierte, aber Iliciovca war zu klein für einen Bürgermeister. Das Gesicht des Bestatters war aufgedunsen vom Wein und fettem Essen. Lila hielt immer noch Ioanas Hand, als der Bestatter das Ergebnis verkündete.
»Du warst super«, flüsterte Ioana Lila ins Ohr.
»Für das Finale wurden nominiert …«, begann er, und das Klatschen im Saal erstarb.
Von den zwölf Mädchen
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