Argwohn: Thriller (Solveigh Lang-Reihe) (German Edition)
Sie sah sehr unglücklich und verloren aus auf der großen Bühne neben dem Bestatter, der jetzt zum Rhythmus der Musik klatschte und abtrat. Lila suchte den Blick ihrer Großmutter, die ihr direkt gegenübersaß. Die alte Frau betrachtete das Geschehen mit einer gewissen Milde, die Lila guttun würde, aber sie tat ihr den Gefallen nicht, ihr Blick blieb starr auf die Bühne gerichtet. Für die Mädchen galt es, einen weiteren Spießrutenlauf vor dem ganzen Dorf zu absolvieren: ein Lied oder ein Stück auf einem Instrument, einige Fragen des Publikums. Ioana hielt sich tapfer, und auch Mascha schien einige Sympathien im Publikum zu gewinnen. Dann rief er die drei zusammen und führte sie an den Rand der Bühne. Ioana stand jetzt keine fünf Meter von Lila entfernt und lächelte ihr zu. Sie winkte zurück und versuchte, möglichst zuversichtlich zurückzuzwinkern. In wenigen Augenblicken würden sie wissen, ob das Kleid die Prophezeiung erfüllt hatte. Die Wahlurnen, kleine Säcke aus weichem Samt an einem Holzstecken, die normalerweise für die Kollekte in der Kirche benutzt wurden, wanderten nach vorne. Der Bestatter erklärte, dass die Auszählung nur noch wenige Minuten dauern würde. Als die letzten Stimmzettel vor dem Ortsvorsteher auf den Tisch geschüttet wurden, riss der Bestatter die Hände der Mädchen in die Höhe, als wolle er sie alle drei zu Siegerinnen erklären. Lila drehte sich zu Radu um, der auf zwei Fingern pfiff und mit den Füßen auf den Boden stampfte. Dann reichte der Ortsvorsteher dem Bestatter einen Zettel. Der las ihn, ohne die Miene zu verziehen, und drängte sich zwischen Mascha und Ioana. Dann verstummte die Musik. Das Mikrofon verursachte eine Rückkopplung, und für den Bruchteil einer Sekunde war nur ein lautes Kreischen zu hören.
»Platz Nummer drei …«, verkündete er betont langsam, »geht an …«
Lila schaute zu Radu, zu ihrer Großmutter und zu Ioana. Ihre Fingerknöchel traten weiß hervor, als sie sich in die Holzbank krallte.
»Mascha Syrbu!« Er umarmte die unglückliche Mascha mit ihrem Folklorekleid. Irgendjemand reichte einen Blumenstrauß auf die Bühne, und das Dorf klatschte frenetisch Beifall. Jeder wusste, dass die eigene Enkelin schon im nächsten Jahr auf dieser Bühne stehen konnte mit all ihren Hoffnungen.
»Bevor wir zur Verlesung der diesjährigen Mittsommerkönigin von Iliciovca kommen, habe ich noch eine gute Nachricht für die Siegerin!«, sagte der Bestatter. Lila hätte schwören können, dass er kurz überlegen musste, wo er war, als er den Namen ihres Dorfes nannte.
»Zum ersten Mal in diesem Jahr wird als Preis für die Siegerin keine Einladung zum Ferienkolleg der Universität vergeben …«
Ein Raunen ging durch die Menge, und Lilas Finger schlugen gegen die Unterkante des Tisches. Kein Ticket für das Kolleg? Warum auf einmal diese Änderung? Es war Tradition, dass die Mittsommerkönigin an die Universität nach Kischinau ging.
»Stattdessen lädt die Stadt Bukarest die Gewinnerin ein, für zwei Wochen unser Nachbarland kennenzulernen.«
Die Menge grölte, was Lila nur dem Alkohol zuschreiben konnte. Der neue Preis war eine Katastrophe!
Lila starrte zu Ioana. Der ganze Aufwand für nichts? Was sollte Ioana für zwei Wochen in Bukarest, wenn sie den Rest ihres Lebens hier verbringen müsste? Und wie sollte es ihr gelingen, Lila doch noch an die Uni zu schleusen, wenn sie nicht einmal selbst ein Ticket dorthin gewann? Ioana stand in ihrem wunderschönen Kleid die Enttäuschung ins Gesicht geschrieben. Sie sah jetzt aus wie eine verzweifelte Herzogin von Bukarest, die soeben in ihr eigenes Schloss eingeladen worden war. Dabei hatte sie noch gar nicht gewonnen.
»Hiermit präsentiere ich Ihnen die beiden Siegerinnen der diesjährigen Wahl zur Mittsommerkönigin von Iliciovca. Die Vizekönigin Ioana Grigorasch und die Königin Svetlana Saenko!« Er klatschte in die Hände und umarmte seine Tochter. Ioana beachtete er nicht mehr. Radu pfiff, und Lila schluckte. Sie stand auf. Als Ioana an ihr vorbei in Richtung ihrer Familie schritt, sah sie sehr gefasst und sehr königlich aus. Lila rannte hinter ihr her, während das Dorf die neue Mittsommerkönigin feierte. Ioana umarmte ihre drei Brüder, und nur Lila bemerkte eine kleine Träne auf ihrer Wange. Dann drehte sie sich um, und die Trauer war aus ihren Augen verschwunden. Sie umarmte Lila, wie sich nur zwei allerbeste Freundinnen umarmen können, und flüsterte ihr ins Ohr: »Was sollen
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