Argwohn: Thriller (Solveigh Lang-Reihe) (German Edition)
entwickeln.
»Wieso sitzt die Staatsanwaltschaft, die für die ’Ndrangheta zuständig ist, eigentlich in Neapel?«, erkundigte sich Solveigh auf dem Weg in die Stadt. Sie hatte das Fenster geöffnet, und die Motorroller hupten im stockenden Verkehr alle paar Meter durch ihr Fenster. Anders war die Hitze nicht zu ertragen, obwohl die Klimaanlage des Fiat auf Hochtouren lief.
»Sie hatten noch nicht mit der italienischen Mafia zu tun, oder?«, fragte Ugo Bonardi.
»Persönlich hatte ich noch nicht das Vergnügen«, gab Solveigh zu.
»Als ermittelnder Staatsanwalt wollen Sie nicht dort leben, wo Ihre Feinde den Alltag kontrollieren«, erklärte er. »Hier in Neapel ist es die Camorra, die uns vor Übergriffen der ’Ndrangheta schützt. Die Regionalfürsten dulden es nicht, wenn eine andere Organisation auf ihrem Gebiet in Aktion tritt.«
»Die Mafia schützt Sie vor der Mafia?«, fragte Solveigh.
Procuratore Bonardi lachte: »Gewissermaßen«, sagte er. »Die Kollegen, die gegen die Camorra ermitteln, sitzen in Rom«, sagte er. »Italien ist ein verrücktes Land.«
»Aber ein verdammt schönes«, sagte Solveigh, als sie die geschwungene Bucht unter sich sah mit den Kreuzfahrtschiffen und dem Vesuv im Hintergrund.
»Das schönste«, sagte Ugo Bonardi, als sie vor Solveighs Hotel angekommen waren.
»Ich dachte, Sie wollen sich vielleicht kurz frisch machen, bevor wir anfangen?«, fragte Ugo Bonardi und stellte den Motor ab.
»Danke, das ist vermutlich eine gute Idee.« Hinter ihr lagen ein Flug nach Rom, eine Taxifahrt in die Innenstadt und eine weiter Stunde im Ferrocciarossa nach Neapel. Direktflüge gab es so gut wie keine von Amsterdam nach Neapel, und auf der zweiten Teilstrecke war der Zug die schnellere Alternative. Und die schweißtreibendere. Sie konnte tatsächlich eine Dusche gebrauchen. Ugo Bonardi schloss den Fiat ab und geleitete sie an dem Portier vorbei durch ein eisernes Tor zu einem Fahrstuhl.
»Eine seltsame Lobby«, bemerkte Solveigh, als die gläserne Kabine die Fassade des Innenhofs hinauf bis in den fünften Stock glitt. Offenbar wurde nur das Dachgeschoss als Hotel genutzt.
»Es ist sicherer so«, sagte Ugo Bonardi und hielt ihr die Tür zum Empfangsraum auf. Solveigh kannte viele Hotels auf der ganzen Welt, sie lebte an mindestens hundertfünfzig Tagen im Jahr aus dem Koffer, aber eine derartige Sicherheitsmaßnahme war ihr bisher noch nicht begegnet. Als sie sich mit ihrem ganzen Gewicht gegen die Zimmertür stemmen musste, um sie zu öffnen, und die acht zentimeterdicken Stahlbolzen bemerkte, die wie bei einer Panzertür in den Türstock eingelassen waren, schlug ihr Erstaunen in ernsthafte Besorgnis um. Möglicherweise war es doch eine gute Idee, dass jeder, der das Hotel betreten wollte, durch das Nadelöhr des gläsernen Aufzugs musste. Sie konnte sich nur ansatzweise vorstellen, was diese Sicherheitsmaßnahmen für einen Eindruck auf reguläre Touristen machen mussten, die herkamen, um die Altstadt zu besichtigen und die berühmte Pizza Napoli zu kosten.
Eine knappe Stunde später saßen Solveigh und Ugo Bonardi in seinem Büro über dem Hafen. Solveigh betrachtete die Schiffe, die Waren aus der ganzen Welt lieferten und im Gegenzug europäische Exporte stauten. Ugo Bonardi reichte ihr eine Tasse Espresso und trat neben sie.
»Der Hafen ist nahezu komplett in der Hand der Camorra. Die Organisation betreibt ganze Häuser in der Freihandelszone, in der falsche Adidas-Turnschuhe aus Fernost in korrekte europäische Kartons gepackt werden.«
»Auch Drogen?«
»Selbstverständlich auch Drogen. Und Menschen. Womit wir schon beim Hauptgeschäftsfeld der Taccola-Familie wären.«
»Drogen und Menschenhandel, ich weiß«, sagte Solveigh und nippte an dem Kaffee.
»Ja, aber nicht nur das. Sie müssen verstehen, dass die ’Ndrangheta ein riesiges Konglomerat legaler und illegaler Aktivitäten betreibt. Wir schätzen, dass europaweit mindestens tausend Gesellschaften untereinander Geschäfte abwickeln, um das Geld ihres Imperiums zu waschen und die wahren Profite zu verschleiern. Das ist das, was die ’Ndrangheta von allen anderen unterscheidet. Und es ist der Grund für ihren Erfolg in den letzten zwanzig Jahren. Sie sind eine äußerst gut organisierte und undurchsichtige Gemeinschaft.«
»Und gilt das nicht für jede Mafia?«
»Nicht unbedingt. Die neapolitanische Camorra hat sich zum Beispiel auf das Entsorgungsgeschäft in Italien spezialisiert, international spielen sie
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