Argwohn: Thriller (Solveigh Lang-Reihe) (German Edition)
Beinen mit Karabinern gefesselt, die mit dem Blech verschraubt waren. Sanft entfernte er den Knebel aus ihrem Mund. Die Augen der jungen Frau blickten teilnahmslos zur Decke. Er hielt eine Wasserflasche an ihre Lippen, und nach den ersten paar Tropfen schluckte sie instinktiv. Er streichelte ihre Wange.
»Wir sind bald zu Hause«, sagte er. »Dann wirst du verstehen.«
Er konnte es nicht riskieren, ihre Fesseln zu lösen. Aber sie könnte den Kopf drehen und den Wald anschauen. Sie könnte ihre Sinne benutzen, wenn sie nur wollte. Das Schreien hatte sie aufgegeben, wie alle vor ihr. Die Männer gaben das Schreien noch schneller auf als die Frauen, hatte er festgestellt. Wobei er zugeben musste, dass er bei männlichen Objekten stets eine größere Menge Chloroform verabreicht hatte. Während er den Schinken und das Brot für sie beide schnitt, betrachtete er ihre markanten Züge und ihre kräftigen Oberschenkel. Die fünf Tage in seiner Obhut und der damit verbundene Stress hatten das Objekt nicht verdorben. Der Kampfgeist mochte momentan nicht erkennbar sein, aber er sah ihn in ihren Wangenknochen und an den Muskeln ihrer Oberarme.
Er fütterte sie abwechselnd mit einem Stück Speck und einer Scheibe Brot. Sie kaute langsam, aber stetig. Der menschliche Körper ist aufs Überleben ausgerichtet, es ist schwierig für ihn, zu sterben, nur weil der Verstand es für das kleinere Übel hält. Er streichelte ihre Wange, als er die Wasserflasche an ihre Lippen hielt.
»Wir sind jetzt in der Sierra de San Pedro«, erklärte er ihr. »Wenn du genau hinhörst, kannst du die Eulen hören, die über ihrer Beute kreisen. Und die Blätter im Wind. Wenn du möchtest, beschreibe ich dir den Himmel, denn du kannst ja leider nicht aufstehen. Möchtest du, dass ich dir den Himmel beschreibe?«
Aber das Objekt blieb stumm. Der Mann saß noch eine ganze Weile neben ihr auf der Türkante seines Busses und lauschte. Dann nahm er das Tuch, band es ihr in den Mund und zog die Tür zu. Er selbst legte sich auf die hintere Ablage, direkt unter der Heckklappe. Dort träumte er vom Himmel, wenn er schlief. Morgen sind wir zu Hause, versprach er ihr vor dem Einschlafen. Obwohl er natürlich nicht wissen konnte, ob das Objekt wirklich schlief. Manchmal, wenn er nachts aufwachte, hörte er ein Schluchzen unter dem Tuch. Es spielte keine Rolle. Sie würde es verstehen. Jeder verstand es, wenn ihm erst klar wurde, worum es ging.
KAPITEL 36
Neapel, Italien
Freitag, 5. Juli 2013, 11.46 Uhr (am nächsten Tag)
Als Solveigh am Napoli Centrale aus dem Frecciarossa stieg, erschien ihr die Hitze drückend wie in einem Wüstenstaat. Sie eilte das Gleis hinunter Richtung Haupthalle, als sich plötzlich ein Mann von einem Snackautomaten löste und sich ihr in den Weg stellte.
»Signora Lang!«, rief der Mann so laut, dass es jeder auf dem Bahnsteig hören konnte. Solveigh seufzte. Sie hätte etwas mehr Diskretion erwartet. Gerade hier, keine zweihundert Meter von dem Ort entfernt, an dem sie Matteo Taccola mit Paul Vanderlist in Verbindung gebracht hatten. Durch dieselben Überwachungskameras, die in diesem Moment ihre Begegnung mit Procuratore Ugo Bonardi filmte und sechzig Tage auf einer Festplatte der Trentitalia speicherte. Ugo Bonardi trug einen blauen Anzug mit schmaler brauner Krawatte und braune Schuhe. Er war nicht nur sehr gut gekleidet, er sah auch noch unverschämt gut aus. Solveigh kannte ihn nicht persönlich, aber er war ihr Verbindungsbeamter bei der Antimafia-Einheit der Staatsanwaltschaft. Er sprach akzentfreier Englisch als Solveigh, die halbe Schwedin war, und, was viel wichtiger war, er verweigerte als Staatsanwalt nicht die Zusammenarbeit, weil er sich für etwas Besseres hielt. Auf der Landkarte der europäischen Polizeibehörden galt Italien als schwarzer Fleck, was die Kooperationsbereitschaft anging. Staatsanwälte erwarteten, mit Staatsanwälten zu reden, nicht mit einem Commissario, die in ihrem Land deutlich weniger zu sagen hatten als anderswo.
»Willkommen in Neapel«, sagte Ugo Bonardi und griff nach ihrem Koffer, was Solveigh durch einen Wechsel in die andere Hand unterbinden konnte.
»Es ist warm«, stellte Solveigh fest und beeilte sich, die Haupthalle zu durchqueren. Wer wusste schon, ob hinter den Monitoren der Eisenbahngesellschaft nicht doch jemand auf dem Gehaltszettel der Taccolas stand. Und sie wollte nicht mit den örtlichen Behörden in Verbindung gebracht werden. Man konnte nie wissen, wie sich die Dinge
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