Aristos - Insel der Entscheidung
malerischen Landschaft und das glasklare tiefblaue Meer genießen wollten. Für Pauschalreisegruppen bot Aristos ohnehin zu wenig Abwechslung. Und wer weiß, wenn dem Anwesen der reichen und mächtigen Markonos-Familie nicht ein privater Hubschrauberlandeplatz angegliedert wäre, vielleicht würden sogar sie nur selten die Abgeschiedenheit und Stille der Insel aufsuchen.
Das leise Knarren der Terrassentür kündigte das Kommen seines Vaters an.
„Louisa war …“
„Meine Frau und die Mutter meines Sohnes“, brachte Andreas den Satz zu Ende. „Ganz egal, wie jung oder alt wir bei unserer Heirat gewesen sind – ich kann dir versichern, dass rein gar nichts es leichter macht, zu ertragen, was vor fünf Jahren passiert ist.“
„Das weiß ich doch, Junge“, sagte Orestes versöhnlich. „Deshalb habe ich mich auch immer bemüht, dieses Thema möglichst zu vermeiden.“
Dass ich nicht lache! Wortlos fixierte Andreas die Lichter der Fähre. Nur mit äußerster Anstrengung konnte er die scharfe Bemerkung hinunterschlucken, die ihm auf der Zunge lag. Sein Vater und taktvoll ein Thema vermeiden! Nie hatte er das getan! Nie! Nicht, als Louisa frisch verheiratet und schwanger mit ihm hierher gezogen war. Und erst recht nicht, als sie todunglücklich und verzweifelt der Insel ein für alle Mal den Rücken kehrte.
Damals hatte sein Vater gesagt, es sei so „am besten“ – und seitdem wiederholte er dies bei jeder sich bietenden Gelegenheit, insbesondere wenn er ihn dazu bringen wollte, sich doch endlich scheiden zu lassen.
Scheidung, dachte Andreas grimmig. Gab es etwas Sinnloseres auf der Welt? Wie zum Teufel sollte er sich denn von einer Frau scheiden lassen, die Nacht für Nacht in seinen Armen gelegen und die er mit jedem Blick, jeder Berührung, jedem Atemzug mehr geliebt hatte? Wie sollte er sich von all den Bildern scheiden lassen, die sich in seinem Kopf, in seine Seele eingebrannt hatten? Als sie ihm seinen Sohn geschenkt hatte, wie sie ihn gemeinsam ins Bettchen brachten – und ihn nur wenig später in der dunklen Erde für immer schlafen legen mussten. Konnte man sich davon vielleicht scheiden lassen?
Nein, das konnte man nicht! Damit musste er leben. Tag für Tag musste er damit leben, und nachts überfielen ihn die Erinnerungen. Die schönen, die traurigen und die unerträglichen, sodass er nur noch wünschte, seinen Kopf ausschalten zu können, ganz egal wie, Hauptsache, die Erinnerungen blieben weg.
Unter diesen Umständen empfand er die Behauptung seines Vaters, dass alles so „am besten“ sei, nur als grausam, und das ermutigend gemeinte „Zeit, nach vorn zu sehen“ seiner Mutter als zynisch. Denn wie sollte er jemals diesen furchtbaren Schmerz, diese unsägliche Trauer hinter sich lassen und weiterleben, als sei nichts geschehen?
Das konnte er einfach nicht. Auch damit musste er leben!
„Andreas …“
„Nein“, sagte er eisig. „Dieses Gespräch ist beendet.“
„Du bist verrückt“, tobte Orestes los, der nun nicht mehr an sich halten konnte. „Deine Ehe ist beendet! Akzeptiere das endlich. Lass dich scheiden, und fang neu an!“
Ohne seinen Vater eines weiteren Wortes zu würdigen, lief er die Treppe in den Garten hinab und verschwand mit großen Schritten in der abendlichen Dunkelheit der Parkanlagen. Zwei Minuten später saß er in seinem Sportwagen und brauste mit offenem Verdeck davon.
Warum zum Teufel war er überhaupt hergekommen? Es hätte ihm doch klar sein müssen, wohin das führen würde. Wieso hatte er die Bitten seines Vaters nicht einfach ignoriert und war dieser verdammten Insel ferngeblieben, wie er es seit Jahren klugerweise getan hatte?
Genervt bremste er für einen alten Mann, der mit seinem Eselkarren langsam über die Straße zockelte. Wie idyllisch, dachte er zynisch. Ein zerzauster Esel, ein klappriges Wägelchen und eine Flasche Ouzo unter dem Sitz, vermutlich noch eine kleine Holzhütte in den Bergen mit einer dicken, Kuchen backenden Frau darin und ein paar Hühnern und Schafen im Olivenhain hinterm Haus – was brauchte Mann mehr im Leben?
In einem Leben, das sich von seinem eigenen so sehr unterschied, dass man es kaum für möglich hielt, dass er und der Alte auf derselben kleinen griechischen Insel das Licht der Welt erblickt hatten. Wie zwei Außerirdische, die zufällig auf dem gleichen Fleckchen Erde gestrandet sind, dachte Andreas kopfschüttelnd. Oder wie er und Louisa damals. Ein selbstbewusster junger Student von zweiundzwanzig
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