Aristos - Insel der Entscheidung
stützend, beobachtete Louisa die Scheinwerfer eines Autos, das gerade über die Halbinsel, eine Art natürliche Barriere zwischen den exklusiven Villen der Reichen und Mächtigen und der kleinen Hafenstadt von Aristos, brauste. Wenn sie wollte, könnte sie auch die Lichter der Markonos-Sommerresidenz ausmachen, denn diese war auf einer Anhöhe gelegen und hob sich deutlich von den anderen Villen ab. Aber sie wollte gar nicht. Auch wenn sie dort einmal gelebt hatte, heute verband sie nichts mehr mit dem Haus und seinen Bewohnern.
Leise seufzend strich sie sich eine Locke aus der Stirn. Seit fünf Jahren kam sie nun jeden Sommer hierher, um die Ruhestätte ihres Sohnes zu besuchen, doch nicht ein einziges Mal hatte sie dabei auch nur eine Zehenspitze auf das Anwesen der Markonos gesetzt. Alles, was auch nur im Entferntesten zu dieser Familie gehörte, hatte sie ein für alle Mal aus ihrem Leben verbannt, nachdem es zwischen ihr und Andreas aus gewesen war. Alles – bis auf die Erinnerung an ihren Sohn.
„Alles o. k.?“, riss eine tiefe Stimme sie aus den Gedanken.
Langsam wandte sie sich zu dem großen, dunkelhaarigen jungen Mann um, der plötzlich neben ihr an der Reling stand. Als sie den besorgten Blick in seinen Augen sah, lächelte sie ihm zu.
„Keine Sorge, Jamie“, erwiderte sie. „Mir geht es gut. Ist ja nicht das erste Mal, dass ich hierher zurückkehre.“ Und die Zeit besänftigt den Schmerz, auch wenn sie ihn nicht auslöscht, fügte sie in Gedanken hinzu, während ihre Blicke wieder die Lichter des Autos verfolgten, bis sie auf der anderen Seite der Halbinsel in der Dunkelheit verschwanden. Wahrscheinlich wollte der Fahrer jemanden von der Fähre abholen oder einfach nur das fröhliche Treiben am Hafen genießen, das einmal die Woche die kleinen, an der Strandpromenade gelegenen Cafés und Bars erfüllte, sobald das Fährschiff anlegte.
„Kannst du dich eigentlich noch an irgendetwas hier erinnern?“, fragte sie ihren jüngeren Bruder und betrachtete ihn liebevoll. Aus dem kleinen dünnen Jungen war mittlerweile ein überaus attraktiver Mann geworden. Dennoch hatten seine markanten Gesichtszüge ihren jungenhaften Charme noch nicht verloren.
„Ja, ich weiß zum Beispiel noch ganz genau, dass wir beide damals genauso zusammen an der Reling standen wie heute, bevor wir in den Hafen einliefen.“
„‚Standen‘ ist gut. Du hingst halb über der Reling vor lauter Aufregung, und ich hab dich am Gürtel festgehalten, damit du mir nicht ins Wasser fällst.“
Grinsend erwiderte Jamie: „Daran kann ich mich komischerweise gar nicht mehr erinnern! Aber dass Mom und Dad seekrank unter Deck waren und kaum geradeaus laufen konnten, geschweige denn einen quirligen Zehnjährigen beaufsichtigen.“
„Was du alles noch weißt!“, staunte Louisa.
„Um ehrlich zu sein, ich habe rein gar nichts vergessen können: wie du Andreas kennenlerntest und all den Wahnsinn, der darauf folgte. Wie unsere Eltern dich einfach hier zurückgelassen haben.“
„Unsere Eltern haben mich doch nicht ‚einfach hier zurückgelassen‘.“ „Natürlich! Sie haben dich regelrecht zu dieser schrecklichen griechischen Familie abgeschoben.“
„Quatsch!“
„Und dann hat dich Andreas auch noch im Stich gelassen und ist abgehauen!“ „Aber nur, um sein Studium zu beenden“, versuchte sie, ihren Bruder zu beruhigen.
„Unsere Eltern haben ihn gezwungen, dich zu heiraten, weil er dich geschwängert hat. So war es doch. Und dann hat er sich bei der nächstbesten Gelegenheit aus dem Staub gemacht, dieser feige Hund!“
„Jamie!“, rief sie entsetzt. „Ich dachte, du mochtest Andreas.“ „Das habe ich auch“, erwiderte er achselzuckend. „Jeden falls bis er dein Leben kaputt machte und dich aus seinem ausschloss.“
„Er hat mich von gar nichts ausgeschlossen.“ Warum verteidigte sie eigentlich gerade ihren Ex? „Ich habe Andreas verlassen. Weil ich es so wollte. Und ich wüsste wirklich sehr gern, warum du unbedingt mit mir nach Aristos reisen musstest, wenn dich all das noch so sehr belastet!“
„Wegen Nikos“, murmelte er, die Hände in den Taschen seiner weiten Baggy-Jeans vergrabend. „Denn wenn ich erst einmal zur Uni gehe, werde ich wahrscheinlich nicht mehr den ganzen Sommer freimachen können. Und außerdem …“, unwillkürlich ballte er die Hände in den Hosentaschen, „… habe ich gehofft, diesem Feigling Andreas zu begegnen und ihm endlich das zu geben, was er verdient!“
Sein Ton
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