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Aristoteles: Grundwissen Philosophie

Aristoteles: Grundwissen Philosophie

Titel: Aristoteles: Grundwissen Philosophie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Detel
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essenziell; ohne diese Fähigkeit könnten sie sich nicht ernähren und folglich nicht überleben. Diese Wahrnehmungsfähigkeit erfordert die Fähigkeit, das Angenehme vom Unangenehmen zu unterscheiden; dies impliziert einerseits ein Bedürfnis nach jeweils angenehmen Dingen und die Furcht vor unangenehmen Dingen und andererseits das Vermögen, Lust und Schmerz zu empfinden, also elementare bewusste Gefühle zu haben. Vor allem muss hier die Fähigkeit vorliegen, die vier Grundqualitäten wahrzunehmen. Dabei ist das Bedürfnis [54] nach dem Trockenen und Warmen Hunger, das Bedürfnis nach dem Kalten und Feuchten Durst. Die Fähigkeit, die Grundqualitäten wahrzunehmen, ist also notwendig, um Hunger und Durst zu befriedigen. Auf diese Weise werden zentrale seelische Fähigkeiten wie Wahrnehmungen und Gefühle in der Zoologie funktional erklärt.
    Das bisher entwickelte Material lässt sich weiter erklären, bis hin zu den höchsten Zielen im Leben aller Tiere. Denn generell hat die Aufnahme und Verdauung externer Nahrung offenbar die Funktion, das Wachstum und Überleben der Tiere, also das Erreichen und die Stabilisierung ihres Reifestadiums zu ermöglichen. Das Erreichen und die Stabilisierung des Reifestadiums dienen ihrerseits dazu, Nachkommen zeugen zu können. Mit dem Zeugen von Nachkommen wiederum tragen die Tiere zur Existenzsicherung ihrer Spezies bei, und Mitglied einer ewigen Spezies zu sein realisiert das höchste Ziel aller Tiere, nämlich auf die ihnen mögliche Weise als endliche Wesen an der Unsterblichkeit und Ewigkeit teilzuhaben. Das ist das höchste Ziel eines Organs wie des Magens – und aller anderen lebenswichtigen Organe der Tiere. Auf diese Weise verbindet Aristoteles in seinen zoologischen funktionalen Erklärungen die theoretische Verarbeitung vieler empirischer Details mit einer teleologischen Perspektive in kosmologischer und theologischer Dimension. So sichert er seine Arbeitshypothese wissenschaftlich ab, der zufolge auch die geringsten und einfachsten Tiere eine bewunderungswürdige Zweckmäßigkeit aufweisen – nicht nur in vielen Details, sondern auch aufgrund ihrer funktionalen Einbindung in höchste Ziele.
    Diese kosmologische und theologische Dimension des Lebens aller Tiere setzt voraus, dass die Spezies der Tiere ewig ist. »Ein Mensch zeugt (immer wieder) einen Menschen« lautet die aristotelische Standardformel für diese Voraussetzung. Und dieser Hintergrund bildet offensichtlich die entscheidende Trennlinie zwischen moderner und aristotelischer Biologie, denn Letztere schließt die Evolutionstheorie aus.
    [55] Aristoteles behauptet im Methodenkapitel zur Biologie (PA I 1, An. I 1, 403a–b), dass der Biologe sich auch mit der Seele zu beschäftigen habe. Diese für moderne Ohren überraschende Aussage wird verständlicher, wenn wir realisieren, dass die Psychologie für Aristoteles im Wesentlichen ein Teil der Biologie ist. 16
    Am ausführlichsten äußert sich Aristoteles über die Seele in seiner gleichnamigen Schrift
Über die Seele
(
De Anima
). Die allgemeine Definition der Seele ist: »Die Seele ist die erste Aktualität des natürlichen organischen Körpers« (An. II 1, 412b 4–6). Ein natürlicher organischer Körper ist ein lebender Körper, der (funktionale) Teile (»Organe«) hat. Und die erste Aktualität eines Lebewesens ist die grundlegende Fähigkeit des Lebewesens, eine Funktion auszuführen.
    Die beiden grundlegenden Bestimmungen sind also: (a) Die aristotelische Seele (Seele A ) ist das Prinzip des Lebens, d. h., alle Lebewesen, und nur Lebewesen, haben eine Seele A . (b) Die Seele A ist die Funktionalität des lebenden Körpers, der Organe hat. Genauer: Eine Seele A ist eine Funktionsfähigkeit, mithin das Verfügen über eine nichtmathematische natürliche Funktion im grundlegenden Sinne, d.h. im Sinne einer konsistenten Organisation verschiedener einzelner Funktionen der Teile des Lebewesens (»funktionales System«).
    Daraus folgt: (i) Dass ein Ding eine Seele A hat, heißt, dass dieses Ding ein organischer Körper ist, der funktionsfähig ist. Beseelt zu sein heißt, ein funktionsfähiges Lebewesen zu sein, also fähig zu sein, die Dinge zu tun, die seiner Funktion entsprechen. (ii) Die Seele A kann nicht unabhängig vom Körper existieren, ähnlich wie z. B. die technischen Fähigkeiten eines Ingenieurs nicht unabhängig von einem Ingenieur existieren können. (iii) Die Seele A ist auch keine eigene Substanz, so wenig wie etwa die

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