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Aristoteles: Grundwissen Philosophie

Aristoteles: Grundwissen Philosophie

Titel: Aristoteles: Grundwissen Philosophie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Detel
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Wahrnehmungsfähigkeit eines Lebewesens unabhängig von diesem Lebewesen existieren kann. Für Seelen A stellt sich das Leib-Seele-Problem nicht. Beseelt zu sein ist konstitutiv dafür, dass etwas ein Lebewesen ist. Eine Seele A kann unterschiedliche, [56] hierarchisch geordnete Fähigkeiten aufweisen, die verschiedenen zentralen Funktionen von Lebewesen entsprechen: Ernährung, Reproduktion, Wahrnehmung, Begierde, Empfinden von Schmerz und Wohlgefühl, Ortsbewegung, Denken. Seelen A und somit Lebewesen sind daher unterschiedlich komplex: Es gibt Lebewesen mit einer bloß vegetativen Seele A , mit einer vegetativen und empfindenden Seele A , mit einer vegetativen und empfindenden Seele A , die zugleich Ursache von Ortsbewegung sein kann, und mit einer Seele A , die zusätzlich zu allen genannten Fähigkeiten auch denkfähig ist (An. II 2–3).
    Wahrnehmungsfähigkeit ist für Tiere konstitutiv (An. II 2, 413b). Wahrnehmung ist eine Aktivität »in der Materie« und insofern der Seele und dem Körper gemeinsam zuzurechnen. Die Seele erleidet Gefühle und Wahrnehmungen nicht ohne den Körper; zugleich ist die Wahrnehmung eine Wahrnehmung des Wahrnehmbaren und »nimmt die Form des Wahrgenommenen ohne Materie an« (An. II 5–III 2; Sens. 1). In diesem Sinne wird das Wahrnehmende mit dem Wahrgenommenen »identisch«. Obgleich Aristoteles noch nicht über die Begriffe von Gehalt und Bedeutung verfügte, können wir diese viel diskutierte Identitätsthese so verstehen, dass im Falle erfolgreicher »wahrer« Wahrnehmung der Gehalt der Wahrnehmung (ihre »Form«) mit der wahrgenommenen Sache identisch ist.
    Die Denkfähigkeit besitzt allerdings einen besonderen Status: Die Aktualität des Denkens ist ohne Bezug zum Physischen. Der denkende Intellekt enthält auch keine Gefühle oder Erinnerungen. Eine Identitätsthese gilt auch für das Denken: Im Denken wird das Denken mit dem Gedachten identisch; der Gehalt wahrer Gedanken stimmt mit dem von ihnen repräsentierten Ereignis überein. Aber insofern das Denken sich mit ewigen und nichtmateriellen Strukturen beschäftigt, folgt aus der Identitätsthese, dass der denkende Intellekt im Denken vom Körperlichen abtrennbar, ewig und unsterblich ist. Dieses Denken kann freilich nicht das Denken einer bestimmten [57] Person sein, der abtrennbare Intellekt ist vielmehr unpersönlich (An. III 4–5).
    Mit der Unterscheidung wichtiger Funktionen der Seele A – Funktionserfüllung, Empfindungs- und Wahrnehmungsfähigkeit, Denkfähigkeit – wird der vegetativen Seele die Rolle des biologischen Fundaments des Geistes zugesprochen. Die allgemeine Theorie der Seele A naturalisiert die Vorstellung von der Seele und macht den größten Teil der Psychologie zu einem zentralen Bestandteil der Biologie, also der Theorie der Lebewesen.
    Der Begriff der Seele A ist umfassender, der des Intellekts A dagegen enger als der moderne Begriff des Geistes. Für die vegetative und wahrnehmende Seele A stellt sich das Leib-Seele-Problem nicht. Denn beseelt A zu sein ist konstitutiv dafür, ein Lebewesen oder Tier zu sein. Für den unpersönlichen Intellekt A ergibt sich das Leib-Seele-Problem ebenfalls nicht, weil der denkende Intellekt A nicht mit einem individuellen Körper oder Gehirn verkoppelt ist: Er ist vielmehr Gott, Weltseele, die Funktionsfähigkeit des Kosmos, also der unbewegte Beweger, nicht die individuelle Denkaktivität einzelner Personen. Bemerkenswert ist der theoretische Stellenwert des Funktionsbegriffs bei Aristoteles. Es handelt sich um (nichtmathematische) natürliche Funktionen, aber analog auch um artifizielle Funktionen, die den Artefakten von intentionalen Wesen zugewiesen werden (diese Analogie rechtfertigt den ständigen Vergleich zwischen funktionsfähigen Naturdingen und Artefakten). In der modernen Wissenschaft wurde dieser Funktionsbegriff erst in der Evolutionstheorie wieder ausdrücklich verwendet.

[58]
Metaphysik
    Als der junge Aristoteles in die platonische Akademie eintrat, hatte Platon bereits seine Theorie der Formen entwickelt. Ihre zentrale Idee war, dass wir strikt unterscheiden müssen zwischen einzelnen strukturierten Dingen, die wahrnehmbar sind, wie etwa einzelnen Menschen oder Betten, und den allgemeinen nicht wahrnehmbaren Strukturen oder »Formen« selbst, die durch einzelne strukturierte Dinge instantiiert werden, wie etwa der Struktur des Menschen oder der Struktur des Bettes (
Abtrennbarkeitsthese
). 17 Heute gilt uns diese Unterscheidung als

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