Aristoteles: Lehrer des Abendlandes (German Edition)
gerecht werden müssen. Nur die Götter sind frei von den menschlichen Verbindlichkeiten. Geld in den Händen von Göttern ist unvorstellbar (X 8, 1178 b 8–20).
Die hier vorgelegte knappe Skizze ist eine systematisierende Zusammenfassung von Gedanken, die Aristoteles eher assoziativ entwickelt, wobei spürbar wird, dass er mit dem Problem ringt, wonach seine Ethik, von vier Kapiteln auf wenigen Seiten abgesehen, der zweitbesten Lebensform gilt. Der Aristotelesschüler Dikaiarch hat daraus die Konsequenz gezogen, indem er ohne Umschweife das aktive Leben (bezeugt bei Cicero als vita activa ) an die erste Stelle gesetzt und folgerichtig auch die Unsterblichkeit der Seele geleugnet hat.[ 37 ] Doch bleibt unklar, ob er in die Vorrangstellung der aktiven Lebensform die politische Dimension überhaupt einbezogen hat.
In der abschließenden Erörterung über die Notwendigkeit einer nur bescheidenen äußeren Ausstattung (X 9, 1178 b 33–1179 a 18) wird denn auch der einfache Bürger in seinem praktisch-politischen Handeln mit Anaxagoras (der den Himmel betrachtete) auf eine Stufe gestellt, jedenfalls hinsichtlich der Möglichkeit, zu einem glücklichen Leben zu gelangen. Auffallend dabei ist die Distanz zu der Vorstellung vom ethisch wertvollen Handeln des Machthabers.
Auch ohne Herrschaft über Land und Meer ist edles Handeln möglich … bekanntlich handelt der einfache Bürger nicht minder rechtlich als der Machthaber; er übertrifft ihn sogar (X 9, 1179 a 4–8).
Aristoteles als Vertrauter am makedonischen Königshaus wusste, wovon er sprach.
Ü BERGANG ZUR P OLITIK
Es ist für den Charakter der Nikomachischen Ethik bezeichnend, dass sie nicht mit dem Preis des theoretischen Lebens endet, sondern zu der zuvor schon gestellten Frage zurückkehrt, wie man ein sittlich wertvoller Mensch wird (X 10, 1179 b 1ff.). Am Beginn der Untersuchung über die ethischen Tugenden (II 1, 1103 a 14ff.) hatte Aristoteles das Moment der Gewöhnung angeführt und daraus seinen Begriff des Ethos abgeleitet. Jetzt fragt er, wie eine Gewöhnung überhaupt vor sich gehen kann. Eine Naturanlage als nicht in unserer Macht stehend und die bloße Belehrung als für die Bildung des Ethos unzureichend kommen nicht in Frage, zumal darin eine vorangehende Gewöhnung schon vorausgesetzt ist. Leider reicht das gesprochene Wort bei den meisten Menschen ebensowenig aus wie die Vorbildfunktion trefflicher Menschen. Man braucht daher Gesetze, und zwar solche, die das ganze Leben erfassen. Derartige Gesetze gibt es aber kaum, allenfalls in Sparta, ansonsten ist die ‹Bildungspolitik› auf gesetzlicher Grundlage völlig vernachlässigt (X 10, 1180 a 25–28). Man kann aber nicht beliebige Gesetze durch bloße Rhetorik zusammenstellen, wie es die Sophisten meinen (X 9, 1181 a 12–17), vielmehr erfordern geeignete Gesetze kluge und erfahrene Gesetzgeber. Aristoteles steht damit vor dem gleichen Problem wie Platon in seinem gewaltigen Alterswerk Gesetze, dessen Entstehung Aristoteles in der Akademie mitverfolgen konnte. Aber er erwähnt es hier, am Schluss der Nikomachischen Ethik , mit keinem Wort und bemerkt seltsamerweise sogar, dass «die Früheren (sc. Denker) die Frage der Gesetzgebung unerforscht hinterlassen» hätten,[ 38 ] um wenige Zeilen später eine Untersuchung darüber anzukündigen, was frühere Forscher schon an richtigen Einsichten herausbekommen haben (X 9, 1181 b 16), die dann im zweiten Buch der Politik auch die Kritik an den platonischen Gesetzen einbezieht.
Wenn Aristoteles am Schluss auf die (von ihm selbst angeregte und mitgestaltete) Sammlung der Polisverfassungen und auf eine (in den Büchern IV–VI der Politik ausgeführte) Untersuchung über die einzelnen Verfassungstypen verweist, dann hat er mit diesem Übergang von der Ethik zur Politik noch einmal den Zusammenhang beider Bereiche betont.
Und in der Tat hat Aristoteles diesen Zusammenhang immer wieder hervorgehoben. Er hatte auch noch kein Wort für «Ethik» als substantivische Werkbezeichnung[ 39 ] und er macht von vornherein klar, dass seine Untersuchung über die ethischen Fragen zur «politischen Wissenschaft» gehört (I 1, 1094 a 27), sodass sich Ethik und Politik (im engeren Sinne) zur «praktischen Philosophie» zusammenschließen und damit den Charakter einer Handlungstheorie bekommen.[ 40 ]
Seltsamerweise hat die Eudemische Ethik einen etwas anderen Schluss. Im Ganzen sind Aufbau und Thematik zwischen den beiden Ethiken ganz analog gestaltet. Auch mündet
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