Arkadien 02 - Arkadien brennt
künstlich angelegte Wildnis mit dichtem Wald, verschlungenen Pfaden und steilen Felsformationen. Bäche und Tümpel wirkten bei Tageslicht idyllisch, in einer Winternacht aber wurden die offenen, ungeschützten Eisflächen zu unüberwindbaren Hindernissen.
Irgendwo in diesem Dickicht gab es eine künstliche Grotte, die seit Jahren für Besucher gesperrt war, dazu zahllose andere Winkel und Ecken, die sich vermeintlich als Unterschlupf anboten. Michele nahm sicher an, dass seine Beute irgendwo Deckung suchte, in der Hoffnung, dass die Panthera sie nicht finden würden. Aber Rosa machte nicht den Fehler, den Geruchssinn der Raubkatzen zu unterschätzen. Sie hatte Alessandro und andere Carnevares in Tiergestalt erlebt und ihr war klar, dass es vor ihnen kein Versteck gab. Früher oder später würden sie jeden aufspüren, der sich in einem der Löcher verkroch.
Geradeaus laufen, hatte sie zu den anderen gesagt. Nur war das im Ramble unmöglich. Das Wegenetz war kurvig und unübersichtlich, und neben den Pfaden erhoben sich steile Hänge und Klippen. Michele hatte sich den denkbar besten Spielplatz ausgesucht, aus den gleichen Gründen, aus denen Cesare damals für die Jagd das Monument von Gibellina gewählt hatte. Aus den engen Schneisen zwischen Gestein und wucherndem Unterholz gab es kein Entkommen.
Rosa rannte durch den verharschten Schnee und versuchte, ihren jagenden Atem zu kontrollieren. Das Profil ihrer derben Schuhe bewahrte sie davor auszurutschen, aber sie war dennoch viel zu langsam. Sie wollte nach Westen, zum Rand des Parks. Doch immer, wenn sie einen Blick durch die Bäume erhaschte, sah sie nur schwarzen Himmel, keine Skyline. Vielleicht lief sie in die falsche Richtung, immer tiefer in den Park hinein. Umzukehren wagte sie nicht, die Panthera mussten bereits ihren Spuren folgen.
Den ersten Schrei hörte sie, als sie geduckt eine kleine Brücke überquerte. Einer der Jungen wahrscheinlich, aber es war schwierig, das mit Bestimmtheit zu sagen – das Kreischen klang hoch und schrill, nach Todesangst.
Rosa lief weiter. Kein Mitgefühl, nicht jetzt. Ihr wurde übel. Sie schaffte es noch bis zum Geländer der Brücke und übergab sich auf die gefrorene Wasseroberfläche.
Als sie aufblickte, sah sie eine Bewegung in den Büschen, einen gleitenden Schemen in der Dunkelheit am Ufer. Sie warf sich herum und rannte weiter, hätte gern auf ihre Verfolger gehorcht, hörte aber nur das Knirschen ihrer eigenen Schritte im Schnee und ihren Atem, beides zu laut.
Den zweiten Schrei stieß eines der Mädchen aus. Er drang aus einer anderen Richtung zu ihr herüber. Also hatten sich die vier doch noch getrennt. Genützt hatte es ihnen nichts. Die Panthera hatten sich ihr zweites Opfer geholt. Rosa fragte sich, ob sie ihre Beute gleich töteten oder sie nur verletzten und entkommen ließen, ihr einen Vorsprung gaben und dann dem Duft des heißen Blutes folgten.
Wieder bewegte sich etwas zwischen den Bäumen, jetzt neben ihr. Dicht am Boden, als bildeten die schwarzen Silhouetten der Stämme Auswüchse, die von einem zum anderen flossen und verschmolzen. Etwas huschte durch das Unterholz, parallel zum Weg. Aber sie verlor es gleich wieder aus den Augen, weil schon nach wenigen Schritten die nächste hohe Böschung ihren Blick versperrte.
Wie lange war sie jetzt unterwegs? Keine fünf Minuten. Blieb eine Ewigkeit, ehe das Serum seine Wirkung verlor und sie die Chance bekam, sich zu verwandeln. Wartete Michele so lange mit seinem Angriff? Suchte er nun doch den Kampf mit einer Gegnerin, die sich wehren konnte? Rosa erinnerte sich an das Duell zwischen Zoe und Tano, Schlange und Tiger, das sie im Wald der Alcantaras beobachtet hatte. Sie hatte wenig Hoffnung, dass sie so viel entgegenzusetzen hätte wie ihre Schwester.
Wieder ein Schrei, und diesmal schien er kein Ende zu nehmen. Das Fauchen der Raubkatzen hallte durch die Nacht, mehrere Panthera, die sich um ihre Beute balgten. Schließlich ertönte markerschütterndes Löwengebrüll. Dann herrschte Stille. Der Streit war entschieden.
Sie erreichte eine Kreuzung, bog nach rechts. Eine weitere Brücke unter tief hängenden Zweigen. Vor ihr gähnte die Mündung eines Fußgängertunnels. Sie konnte sein Ende sehen, keine zehn Meter entfernt, ein vager grauer Fleck inmitten der Schwärze.
Sie blieb stehen, horchte, hörte das Trommeln ihres Herzschlags. Alessandros Züge stiegen vor ihrem inneren Auge auf, aber das konnte sie im Augenblick am allerwenigsten
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