Arkadien 02 - Arkadien brennt
geradeaus. Kommt nicht auf die Idee, Haken zu schlagen – das wird sie nicht aufhalten. Sie können euch wittern, also versteckt euch nicht. Laufen ist alles, was euch vielleicht retten wird.« Uns, hätte sie sagen sollen.
Noch immer war die ganze Situation viel zu unwirklich. Das Einzige, was ihr real vorkam, war die Kälte. Und nachdem sie erst einmal darauf achtete, wurde es schlimmer. Sie trug nur ihr kurzes Kleid und die zerrissene schwarze Strumpfhose. Ihre Jacke war an der Garderobe des Dream Room zurückgeblieben. Wenn sie nicht sehr schnell zur Schlange wurde und ihre Körpertemperatur sich der Umgebung anpasste, konnte sie sich das Weglaufen sparen.
Plötzlich stand Michele neben ihr. »Du hast ihnen besser erklärt, worauf es ankommt, als ich das gekonnt hätte. Man meint fast, du hast Erfahrung damit.«
Jessy spie Rosa vor die Füße. »Verreck doch mit den anderen.«
Michele lächelte beeindruckt vom Mut der Kleinen. Rosa hatte das ungute Gefühl, dass er sich gerade seine ganz persönliche Beute ausgesucht hatte – bevor oder nachdem er mit Rosa selbst fertig war.
»Bleibt auf keinen Fall zusammen«, sagte sie zu den vier. »Lauft in unterschiedliche Richtungen.«
»Hört nicht auf sie«, widersprach einer der beiden Jungen. »Zusammen schaffen wir es vielleicht.«
»Nein!«, fuhr Rosa ihn an. »Ihr müsst euch trennen!«
Michele strahlte vor Vergnügen, während er die Szene beobachtete. »Denkt daran, sie ist eine von uns.«
Das zweite Mädchen begann um sein Leben zu flehen, aber niemand beachtete sie.
»Sie töten euch alle, wenn ihr in der Gruppe bleibt«, sagte Rosa. Aber die vier scherten sich nicht darum.
»Wir töten euch, egal, was ihr tut«, erklärte Michele süffisant.
Rosa fuhr herum, und ehe er ausweichen konnte, schlug sie ihm mit der geballten Faust ins Gesicht.
Michele taumelte mit einem Stöhnen zurück, und zugleich witterte einer der Jungen eine Chance. »Los! Kommt jetzt!«, rief er den anderen zu, und dann stolperten sie los, vier entkräftete, ausgezehrte, hilflose Jugendliche, denen in wenigen Augenblicken das Rudel der Panthera auf den Fersen sein würde. Sie erreichten die Bäume und verschwanden aus Rosas Blickfeld. Das eine Mädchen weinte noch immer und ihr Schluchzen verriet, wo die vier sich befanden.
Während Michele sich wieder aufrichtete, warfen im Hintergrund die ersten Carnevares ihre Mäntel ab. Außerhalb des Lichts der Lkw-Scheinwerfer verzerrten sich menschliche Silhouetten, ein Stöhnen und Fauchen drang aus allen Richtungen. Es waren auch Frauen darunter; anders als bei den Lamien besaßen beide Geschlechter der Panthera die Fähigkeit zur Verwandlung. Rosa sah, wie eine von ihnen auf Hände und Füße kippte – und im selben Moment vier Pranken daraus wurden.
Michele scheuchte mit einem zornigen Wink zwei seiner Handlanger fort, die sich auf Rosa stürzen wollten. »Ich lasse Alessandro ein Stück von dir schicken«, sagte er. »Tiefgefroren. Was glaubst du, welches Teil er am liebsten hätte?«
»Er wird dich dafür umbringen, Michele.« Sie hatte daseinfach so dahingesagt, ohne darüber nachzudenken, aber noch während sie die Worte aussprach, wurde ihr klar, dass es die unumstößliche Wahrheit war. Sie hatte erlebt, wie rachsüchtig Alessandro sein konnte. Er würde nicht ruhen, bis er ihren Mörder getötet hatte.
Nur half ihr das im Augenblick herzlich wenig.
Das Oberhaupt der New Yorker Carnevares wischte sich einen Blutstropfen von der aufgeplatzten Lippe, betrachtete ihn auf seinem Handrücken und leckte ihn ab – mit einer Zunge, die nicht länger menschlich war, sondern geschmeidig und rau. Auch sein Haar verfärbte sich, wurde heller. Er machte sich nicht die Mühe, seine Kleidung abzulegen.
»Lauf, Rosa Alcantara«, fauchte er, während immer mehr der anderen vornüber auf ihre Pfoten sanken. »Lauf und halt dein Fleisch warm, bis ich wieder bei dir bin.«
Da rannte sie los, aus dem grellen Schein zur anderen Seite der Lichtung, zwischen schnappenden, schnurrenden, heulenden Raubkatzen hindurch, die ihre Gier kaum noch zügeln konnten.
Sie lief nach Westen, in den Schatten der Bäume, durch unberührten Schnee.
Die Meute
B ald darauf stolperte sie eine Böschung hinunter und gelangte auf einen schmalen Weg. Vor ihr in der Dunkelheit erhob sich ein mächtiger Torbogen, gemauert aus groben Steinquadern. Sie kannte diesen Ort, vor Jahren war sie schon einmal hier gewesen.
Das Gebiet hieß The Ramble und war eine
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