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Arkadien 03 - Arkadien fällt

Arkadien 03 - Arkadien fällt

Titel: Arkadien 03 - Arkadien fällt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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beiden, nehmt niemanden mit.
    Eine schmale Treppe führte über die Geröllhalde nach unten. Sie trugen jetzt die Taschenlampen und ließen ihre Strahlen über die Stufen und die Wände der Grotte wandern. An der Höhlendecke flatterten Tauben, die ihre Nester ins Gestein gebaut hatten.
    Auf dem zerfurchten Grund der Grotte lagen morsche Holzstege, Überbleibsel alter Ausgrabungen. Als sie darauftraten, hallte das Knarren lautstark von den Karstwänden wider. Lieber tasteten sie sich über den Felsboden vorwärts.
    Es heißt, in dieser Höhle habe Zeus seine Kindheit verbracht. Fundling hatte Rosas zweifelnden Blick zwar bemerkt, aber mit einem Lächeln abgeschmettert. Zeus’ Vater, der Titan Kronos, befürchtete, seine Kinder könnten ihm seine Macht streitig machen. Daraufhin hat er sie bei lebendigem Leibe aufgefressen – alle bis auf seinen jüngsten Sohn. Zeus war noch ein Säugling, als seine Mutter ihn vor Kronos in der Idäischen Höhle versteckte.
    Die Ideon Andron bestand aus einer großen und zwei kleineren Kavernen, die ineinander übergingen. Für Rosa sahen sie aus wie jede andere Grotte – bis Alessandro stehen blieb, sich umdrehte und an ihr vorbei zurück zum Ausgang blickte.
    »Er hat Recht gehabt«, flüsterte er. »Kannst du es spüren?«
    Nicht es, sondern sie . Rosa fühlte ihre Anwesenheit mit einer solchen Gewissheit, als hätte sie hinter sich das Scharren von Schritten gehört oder wandernde Schatten entdeckt. Tatsächlich sah und hörte sie nichts und wusste dennoch, dass sie nicht mehr allein waren.
    Zeus hat viele Jahre lang in der Grotte gelebt , hatte Fundling gesagt, während er sie mit seinem Wagen aus dem Tal von Giuliana gebracht hatte. Seine Mutter hat ihm eine Schildwache zum Schutz gegeben, die Kureten. Dämonen oder Geister, wer weiß das schon. Sie waren seine Leibwächter, seine Diener. Später hat er sie oft herbeigerufen, um seinen Willen zu vollstrecken.
    Mythen und Legenden, gewiss. Aber galt das nicht auch für sie selbst, für jeden Arkadier, der die Fähigkeit zur Verwandlung besaß? Sigismondis hatte ihr Geheimnis mit Hilfe der Wissenschaften ergründen wollen, Leonardo Mori hatte ihre Spuren durch Bibliotheken und alte Handschriften verfolgt. Aber keiner hatte zu guter Letzt etwas anderes zusammentragen können als Vermutungen, Thesen – und noch mehr Mythen.
    Erneut ließ sie den Lichtkegel über die Felswände geistern. Die Dunkelheit jagte ihr keine Angst ein, weil das, was mit ihnen die Grotte betreten hatte, jede andere Bedrohung um ein Vielfaches übertraf.
    Der große Höhlendom war der eindrucksvollste Teil der Grotte, hoch wie das Innere einer Kirche. Sie durchquerten ihn und kamen in eine der Nebenkammern. Laut Fundling war sie vor langer Zeit ein Tempel des Zeus gewesen, hier hatten Anhänger seines Kults ihre Rituale zelebriert.
    Die Lamien sind schon einmal dort gewesen , hatte er gesagt. Damals, nachdem sie Lykaon vom Thron gestürzt und getötet hatten.
    Sie setzte die Kühlbox ab. Wo der Lichtkegel ihrer Strahler nicht hinfiel, herrschte undurchdringliche Schwärze. Selbst der Zugang, durch den sie gekommen waren, hob sich nur als grauer Fleck von der Dunkelheit ab.
    Die Felskammer war weitläufig und leer, und doch kam es Rosa nun vor, als wäre sie bis zum Bersten von Leben erfüllt. Schlagartig fühlte sie sich eingeengt, umzingelt, so als beugte sich jemand über ihre Schulter.
    »Das müsste die richtige Stelle sein«, sagte Alessandro.
    Unschlüssig standen sie da und blickten auf die Box, horchten auf das sanfte Summen der Kühlung.
    »Ach, fuck«, sagte Rosa, »was soll’s.« Und sie ging in die Hocke, legte ihre bebenden Hände an die Verschlüsse und entriegelte den Deckel. Als sie ihn abhob, kam ihr der Gedanke, dass der Gestank hätte schlimmer sein können.
    »Komm«, sagte er sanft, »den Rest mach ich.«
    »Warte.« Sie zog die andere Tasche heran und packte einige Kerzen aus, dazu ein paar handtellergroße Messingschalen, in die sie aus Papiertütchen Kräuter verteilte. Myrrhe, Lorbeer, Salbei und Thymian. Schalen und Kerzen stellte sie in einem kleinen Kreis auf den Boden und entzündete die Kräuter und Dochte mit Streichhölzern. Der Geruch war so intensiv, dass ihre Augen tränten.
    »Okay«, sagte sie, »jetzt.«
    Alessandro griff in die Box, hob heraus, was darin gelegen hatte, und legte es in die Mitte des Kreises. Bis hierher hatte Fundling ihnen alles erklärt, jeden einzelnen Schritt.
    Und dann geht , hatte er gesagt.

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