Arkadien 03 - Arkadien fällt
wenn ich ihn einfach nur frage, warum .«
»Das ist nicht genug. Weil die Antwort dich nur noch mehr verletzen wird. Am Ende, wenn alles gesagt ist, wirst du dir wünschen, dass er tot ist. Und er hat es verdient.«
»Ich will ihm einfach nur in die Augen sehen.«
»Und dann wirst du ihn umbringen.«
Sie zitterte jetzt vor Kälte. Alles, was er sagte, war die Wahrheit. Sie wollte ihren Vater leiden sehen für das, was er ihr angetan hatte. Und womöglich würde das etwas ändern. Aber viel wahrscheinlicher war, dass einfach alles so bleiben würde wie bisher. Dass sie danach noch dieselbe wäre, genau wie die Welt um sie herum.
Nur ohne ihn. Ohne Davide Alcantara. Immerhin etwas, für das es sich lohnte, den nächsten Schritt zu tun.
»Wir brauchen neue Sachen«, sagte sie, »und ein Auto.«
»Um nach Ragusa zu fahren? Zu diesem Antiquariat?«
»Nur für einen Blick in das Buch. Falls uns Fundling nicht schon zuvorgekommen ist.«
Er blickte von ihr zurück zum Hotel, einer Ansammlung fahler Lichter in der Dunkelheit.
Über ihnen ertönte ein Schrei, dann ein Flattern, das rasend schnell näher kam.
Sie riss den Kopf hoch. Aus der Nacht schoss etwas auf sie herab.
»Harpyien!«
Rosa wurde zur Schlange.
Die Schwestern
R iesige Krallen packten Rosas Reptilienleib und rissen sie vom Boden. Aus dem Augenwinkel sah sie noch, wie eine zweite Rieseneule aus dem Nachthimmel niederstieß und sich auf Alessandro stürzte. Er war nur einen Moment nach Rosa zum Tier geworden, aber die Harpyie erwischte ihn noch als Menschen, zerrte ihn an den Schultern nach oben und ließ ihn gleich wieder fallen, als er in seine Katzengestalt wechselte. Rosa wurde herumgeschleudert und verlor ihn aus den Augen. Zugleich wurde ihr bewusst, dass sie sich bereits zehn, fünfzehn Meter über dem Boden befand und die Eule sie immer höher trug.
Schwindel und Dunkelheit raubten ihr die Orientierung. Sie drehte und wand sich im Griff ihrer Gegnerin und versuchte sich ganz auf die riesigen Krallen zu konzentrieren. Sie waren die einzigen Fixpunkte in diesem wilden Flug durch die Nacht. Rosa ließ ihren Reptilienschädel nach unten pendeln, holte aus, schwang sich dem Bauch der riesigen Eule entgegen und grub ihr die Fangzähne tief ins Gefieder.
Die Harpyie stieß ein markerschütterndes Kreischen aus und geriet ins Taumeln. Ihr Flügelschlag kam aus dem Rhythmus. Rosa verlor erneut die Orientierung, als die Eule ein Stück absackte, so plötzlich, dass Rosa ein panisches Zischen ausstieß und dabei ihre Zähne aus dem Leib ihrer Gegnerin riss.
Wenige Herzschläge später wurde ihr klar, dass es sie umbringen würde, wenn die Harpyie sie losließ – oder Rosa sie zum Absturz brachte. Solange sie sich so hoch oben in der Luft befanden, war Rosa auf sie angewiesen. Es war ein Trugschluss, dass Schlangen, nur weil sie so beweglich waren, keine Knochen besaßen; ein Aufprall aus dieser Höhe würde ihr Skelett zertrümmern wie das eines jeden anderen Lebewesens.
Schlimmer noch als ihre Orientierungslosigkeit war die Ungewissheit, was mit Alessandro geschah. Hatte die erste Harpyie sie fortgetragen, damit die zweite ihn ungestört attackieren und töten konnte? Stürzten sich gerade weitere Malandras auf ihn?
Heftig bäumte sie sich im Griff der Vogelkrallen auf. Aber ihr Angriff war zu ziellos und ein Schnabel hackte nach ihr, groß wie eine Axt. Dabei musste sich die Harpyie nach vorn beugen und überschlug sich, was Rosa erneut aus dem Gleichgewicht brachte.
Fürs Erste gab sie sich geschlagen, ließ ihren Körper baumeln, Kopf und Schwanz vom Wind durchgeschüttelt, während die Harpyie ihren Flug stabilisierte und sie weiter durch die Nacht trug. Rosa erkannte jetzt wieder den Boden unter sich, sie erahnte Bäume und Buschwerk, verzweigtes Grau in Grau, das sich dreißig oder auch fünfzig Meter unter ihr befinden mochte.
Sie beugte den Kopf so weit herum, dass sie nach hinten sehen konnte, zum Lichternest Agrigents in der Ferne und zu der mondscheinflirrenden Oberfläche des Mittelmeers. Die Eule flog ins Landesinnere, tiefer in die Wildnis des Hügellands. Vor ihnen lag nur Dunkelheit.
Bald sanken sie wieder tiefer. Sie näherten sich einer kahlen Erhebung, auf der etwas stand, das Rosa im ersten Moment für ein Haus hielt. Eckig, unbeleuchtet – aber zu klein für ein Gebäude.
Ein Kastenwagen. Das Fahrzeug parkte dort oben im dürren Gras am Ende eines schmalen Weges. Es ähnelte einem Geldtransporter, fensterlos und
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