Arkadien 03 - Arkadien fällt
Sie frage, ob ich nur mal darin blättern darf, erlauben Sie mir das nie im Leben.«
»Ganz recht.«
»Hilft es, wenn ich höflich Bitte sage?«
»Leider nein.«
Sie hätte sich verwandeln, ihn mit ihrem Schlangenleib erdrosseln und durch das Gitter in den Raum eindringen können. Zum ersten Mal verfluchte sie, dass sie nicht tatsächlich die skrupellose Verbrecherin war, nach der auf ganz Sizilien gefahndet wurde.
»Kann ich Ihnen die Telefonnummer meines Professors geben, damit Sie ihm bestätigen, dass ich hier war? Der glaubt mir nie und nimmer, wenn ich ihm erzähle, dass Sie das Buch ins Gefängnis gesteckt haben. Ohne Besuchsrecht.«
Zum ersten Mal zuckte einer seiner Mundwinkel. Vielleicht hatte sie Glück und er bekam einen Hirnschlag.
»Würden Sie das tun?«, fragte sie noch einmal.
Er holte tief Luft und deutete mit dem Kopf in Richtung der vorderen Zimmer. »Komm erst mal mit. Ich erzähle dir etwas zu dem Buch, vielleicht hilft dir das ja schon weiter.«
Jetzt duzte er sie. Das machte ihr ein wenig Hoffnung, ihre Mitleidsnummer könnte doch noch Erfolg haben.
Bemüht, es mit der Leidensmiene nicht zu übertreiben, folgte sie ihm nach vorne. Im Ladenlokal wies er auf den einzigen Stuhl. »Setz dich.«
Sie nahm Platz, während er sich gegen die Kasse lehnte und die Arme verschränkte.
»Was weißt du über Leonardo Mori?«, fragte er.
»Nur, dass er ermordet wurde. Vermutlich jedenfalls. Unter ziemlich mysteriösen Umständen.«
»Er und seine Frau kamen ums Leben«, bestätigte der Antiquar. »Die beiden hatten ein Kind, das damals spurlos verschwunden ist. Der Junge wird wohl ebenfalls tot sein.«
»Schlimme Sache.«
»Aber das wusstest du schon, nicht wahr?«
»Um ehrlich zu sein, ja.«
»Dann erzähle ich dir etwas, das du noch nicht weißt. Du kannst eine Fußnote in deiner Arbeit daraus machen, wenn du möchtest.«
Sie wartete, während er die Daumen in seine ausgeleierten Hosentaschen hakte und an ihr vorbei zu den Auslagen im Fenster blickte. Erst jetzt fiel ihr auf, dass das fahle Licht den Laden in ewigen Abenddämmer tauchte.
»Mori war besessen von großen Katastrophen – Sintfluten, Vulkanausbrüchen, Erdbeben. Er hat Jahre an diesem Buch gearbeitet, ist rund ums Mittelmeer gereist, um die wichtigsten Orte mit eigenen Augen zu sehen. Du weißt schon – Pompeji, Santorin, natürlich den Ätna, aber auch das ehemalige Karthago, Uruk und noch zwei Dutzend andere Schauplätze, die er für Teile eines großen Ganzen gehalten hat. Der Untertitel seines Buches lautet Neue Wahrheiten über die Kataklysmen der Antike , aber es ist viel mehr als eine Sammlung von Tatsachenberichten. Natürlich hat er Fakten gesammelt, Opferzahlen, wenn sie verfügbar waren, geologische Gutachten, anthropologische Thesenpapiere über die Folgen und so weiter, und so weiter. Was ihn aber am meisten interessiert hat – und das macht sein Buch so faszinierend –, waren die Augenzeugenberichte. Davon gibt es mehr, als man meint. Die alten Griechen, aber auch die Menschen in Mesopotamien, in Nordafrika und anderswo haben schriftliche Zeugnisse hinterlassen. Die Leute waren damals nicht anders als wir heute. Wenn es uns schlecht geht und wir Zeuge von etwas wirklich Überwältigendem geworden sind, entwickeln wir enormes Mitteilungsbedürfnis. Schau dir all die Bücher zum 11. September an. Oder zum Tsunami in Südostasien. Wer so etwas am eigenen Leib erlebt hat, der will davon erzählen, und meist findet er ein Publikum, das nach jeder Einzelheit giert. Mori wusste das genau, er hat in seiner Laufbahn eine Menge Unfug für Zeitschriften geschrieben, die du als angehende Gelehrte nicht mit der Kneifzange anfassen würdest.«
Sein Lächeln hatte etwas Herausforderndes. Der Argwohn war nicht daraus verschwunden, aber er schien sich gern reden zu hören.
»Mori hat sich auf die Katastrophen rund um das Mittelmeer beschränkt«, fuhr er fort, »wohl auch, weil hier die großen Schriftkulturen betroffen waren. Am Ende hatte er zig Berichte beisammen, und weil ihm das nicht genügt hat, weitete er sein Forschungsgebiet auf die Neuzeit aus. Das große Erdbeben von Messina im Jahr 1908 hatte es ihm besonders angetan. Dreißigtausend Tote innerhalb weniger Minuten. Während er all diese Texte las und katalogisierte und miteinander verglich, fiel ihm eine Art roter Faden auf. Etwas, das eine Vielzahl der antiken Schreiber und Chronisten dokumentiert hatten, wieder und wieder und wieder.«
»Die Löcher
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