Arm und Reich
entdeckt. Möglicherweise wurde Australien noch vor Westeuropa von anatomisch modernen Menschen besiedelt. Wie kam es dann trotz dieses Vorsprungs, daß die Europäer schließlich Australien eroberten und nicht umgekehrt die Australier Europa?
Hinter dieser Frage verbirgt sich eine weitere. Während der Eiszeiten des Pleistozäns, als ein Großteil des Wassers der Weltmeere in kontinentalen Eismassen gebunden und der Meeresspiegel weit unter seinen gegenwärtigen Stand gesunken war, lag die flache Arafurasee, die heute Australien von Neuguinea trennt, trocken und stellte eine Landverbindung dar. Als die Eiskappen vor 12 000 bis 8000 Jahren abschmolzen, stieg der Meeresspiegel, die Landverbindung wurde überflutet, und der ehemalige Kontinent Großaustralien zerfiel in zwei Teile, Australien und Neuguinea (siehe Abbildung 14.1).
Die menschlichen Bewohner der beiden einst vereinten Landmassen unterschieden sich in der jüngeren Vergangenheit sehr stark. Im Gegensatz zu allem, was ich gerade über die australischen Aborigines gesagt habe, waren die meisten Neuguineer, wie beispielsweise Yalis Volk, Ackerbauern und Schweinehirten. Sie lebten in festen Dörfern und waren in Stämmen statt in Gruppen organisiert. Alle Neuguineer besaßen Pfeil und Bogen, viele verwendeten Töpferwaren. In der Regel wohnten sie in viel größeren Hütten, fuhren in seetüchtigeren Booten aufs Meer und besaßen vielfältigere und mehr Gebrauchsgegenstände als die Australier. Da die Neuguineer keine Jäger und Sammler, sondern Bauern waren, lebten sie im Durchschnitt viel dichter zusammen: Obwohl die Fläche Neuguineas nur ein Zehntel der australischen beträgt, überstieg die Zahl der dort lebenden Menschen die der in Australien lebenden um ein Mehrfaches.
Warum blieben die Kulturen der größeren der beiden Landmassen, in die das eiszeitliche Großaustralien zerfiel, in ihrer Entwicklung so »rückständig«, während die Kulturen der kleineren Landmasse viel raschere »Fortschritte« machten? Und warum breiteten sich die neuguineischen Innovationen nicht nach Australien aus, das doch an der engsten Stelle der Torresstraße nur knapp 145 Kilometer von Neuguinea entfernt liegt? Aus kulturanthropologischer Sicht ist die geographische Distanz zwischen Australien und Neuguinea sogar noch geringer, da in der Torresstraße viele Inseln mit bäuerlichen Bewohnern liegen, die Pfeil und Bogen gebrauchen und eine kulturelle Verwandtschaft zu den Bewohnern Neuguineas aufweisen. Die größte Insel der Torresstraße liegt nur etwa 15 Kilometer vor der Küste Australiens. Ihre Bewohner standen in regem Handelsaustausch sowohl mit australischen Aborigines als auch mit Neuguineern. Wie konnten sich zwei derart unterschiedliche kulturelle Welten auf den beiden Seiten einer nur 15 Kilometer breiten, regelmäßig von Kanus überquerten Meerenge auf die Dauer behaupten?
Abbildung 14.1 Karte von Südostasien, Australien und Neuguinea. Die gestrichelten Linien zeigen den Küstenverlauf während des Eiszeitalters, als der Meeresspiegel niedriger war als heute. Damals bildeten Neuguinea und Australien zusammen den großaustralischen Kontinent, während Borneo, Java, Sumatra und Taiwan zum asiatischen Festland gehörten .
Verglichen mit den australischen Ureinwohnern werden die Bewohner Neuguineas als kulturell »höher entwickelt« eingestuft. Doch selbst sie werden von den meisten anderen modernen Völkern als »rückständig« angesehen. Vor Beginn der Kolonisierung Neuguineas durch Europäer Ende des 19. Jahrhunderts waren alle Neuguineer Analphabeten, verwendeten Steinwerkzeuge und lebten noch nicht in Staaten oder (mit wenigen Ausnahmen) Häuptlingsreichen. Zugegeben, die Neuguineer waren »weiter« als die Aborigines, aber warum waren sie noch nicht so »hoch entwickelt« wie viele Eurasier, Afrikaner und Indianer? Yalis Volk und seine australischen Vettern bilden so etwas wie ein Rätsel in einem Rätsel.
Nach den Gründen für die kulturelle »Rückständigkeit« der australischen Aborigines-Gesellschaften gefragt, präsentieren viele weiße Australier eine simple Antwort: Sie verweisen auf die vermeintliche Minderwertigkeit der Aborigines selbst. Von Europäern unterscheiden sich die Aborigines tatsächlich in der Gesichtsform und Hautfarbe, was einige Autoren des späten 19. Jahrhunderts veranlaßte, in ihnen ein fehlendes Glied der Evolution vom Affen zum Menschen zu
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