Arm und Reich
erblicken. Wie sonst ließe sich erklären, daß weiße englische Kolonisten ein alphabetisiertes, demokratisches Gemeinwesen mit Landwirtschaft und Industrie binnen weniger Jahrzehnte nach der Besiedlung eines Kontinents schufen, dessen Bewohner nach über 40 000 Jahren immer noch auf der Stufe analphabetischer Jäger und Sammler standen? Besonders erstaunlich ist in dem Zusammenhang, daß Australien die größten Eisen- und Aluminiumvorkommen der Welt und reiche Vorräte an Kupfer, Zinn, Blei und Zink besitzt. Wie kam es da, daß die Aborigines noch in der Steinzeit lebten?
Es erscheint wie ein perfekt kontrolliertes Experiment zur Evolution menschlicher Gesellschaften. Der Kontinent war der gleiche, nur die Akteure waren andere. Ergo muß die Erklärung für die Unterschiede zwischen Aborigines und europäischaustralischen Gesellschaften bei den verschiedenen Völkern, die sie bilden, zu suchen sein. Die Logik, die diesem rassistischen Schluß zugrunde liegt, erscheint zwingend. Wie wir sehen werden, enthält sie jedoch einen ebenso simplen wie entscheidenden Fehler.
Um diese Frage näher zu beleuchten, wollen wir zunächst die Herkunft der an dem »Experiment« beteiligten Völker betrachten. Australien und Neuguinea waren beide vor spätestens 40 000 Jahren, als sie noch gemeinsam den Kontinent Großaustralien bildeten, von Menschen besiedelt. Ein Blick auf die Landkarte (Abbildung 14.1) legt die Vermutung nahe, daß die Kolonisten aus Südostasien stammten und den Weg über den indonesischen Archipel nahmen, den sie durch »Inselhüpfen« überwanden. Dieser Schluß wird gestützt durch die genetische Verwandtschaft zwischen modernen Australiern, Neuguineern und Asiaten, aber auch durch das Überleben einer kleinen Zahl von Populationen bis in die Gegenwart, die gewisse Ähnlichkeiten in der physischen Erscheinung aufweisen (auf den Philippinen, der Malaiischen Halbinsel und einigen Inseln in der Andamanensee vor der Küste Birmas).
Nach der Landung in Großaustralien ergriffen die ersten Kolonisten rasch von dem gesamten Kontinent Besitz und drangen auch in seine entlegensten Regionen und unwirtlichsten Lebensräume vor. Fossilien und Steinwerkzeuge belegen ihre Anwesenheit in Australiens Südwesten vor mindestens 40 000 Jahren, im Südosten und auf Tasmanien, der am weitesten von dem vermuteten Brückenkopf in Westaustralien oder Neuguinea (den Teilen Australiens, die Indonesien und Asien am nächsten liegen) entfernten Region des Kontinents, vor mindestens 35 000 Jahren und im kühlen Hochland Neuguineas vor mindestens 30 000 Jahren. All diese Gebiete waren von einem Brückenkopf im Westen auf dem Landweg zu erreichen. Die Besiedlung des Bismarckarchipels und der Salomoninseln nordöstlich von Neuguinea vor mindestens 35 000 Jahren erforderte jedoch weitere Wasserüberquerungen über Distanzen von mehreren Dutzend Kilometern. Die Besiedlung Australiens könnte sogar noch schneller als innerhalb von 10 000 Jahren erfolgt sein, da sich die verschiedenen Zeitpunkte unter Einbeziehung des Fehlerintervalls, das bei der Datierung nach der Radiokarbon-Methode zu berücksichtigen ist, kaum unterscheiden.
Als Australien und Neuguinea im Eiszeitalter erstmals von Menschen besiedelt wurden, erstreckte sich der asiatische Kontinent nach Osten ungefähr bis dort, wo heute die Inseln Borneo, Java und Bali liegen; damit reichte er etwa 1500 Kilometer näher an Australien und Neuguinea heran als das heutige Südostasien. Um von Borneo oder Bali zum eiszeitlichen Großaustralien zu gelangen, mußten aber immer noch mindestens acht Meerengen von bis zu 80 Kilometern Breite überquert werden. Vor 40 000 Jahren dienten dazu möglicherweise Bambusflöße– einfache, aber seetüchtige Gefährte, wie sie noch heute an den Küsten Südchinas in Gebrauch sind. Dennoch muß jede Überfahrt ein recht schwieriges Unternehmen gewesen sein, was schon daran abzulesen ist, daß nach der ursprünglichen Landung vor 40 000 Jahren mehrere Zehntausend Jahre lang keine weiteren Neuankömmlinge Großaustralien erreichten, jedenfalls gibt es dafür keine überzeugenden archäologischen Hinweise. Erst in den letzten Jahrtausenden tauchten die nächsten zuverlässigen Indizien in Form von Schweinen in Neuguinea und Hunden in Australien auf, die beide nur aus Asien stammen konnten.
Mithin entwickelten sich die menschlichen Gesellschaften Australiens und Neuguineas in
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