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Arm und Reich

Arm und Reich

Titel: Arm und Reich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jared Diamond
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Alle bis auf eins der sechs bevölke­rungsreichsten Länder der Erde sind Schmelztiegel von Völkern, die erst in jüngerer Vergangenheit zur politi­schen Einheit gelangten und noch heute Hunderte von Sprachen und ethnischen Gruppen beheimaten. Ruß­land beispielsweise, einst ein kleiner slawischer Staat mit Moskau als Zentrum, begann erst ab 1582 n. Chr. mit der Eroberung von Gebieten jenseits des Urals. Ab die­sem Zeitpunkt bis zum 19. Jahrhundert unterwarf es einige Dutzend nichtslawische Völker, von denen vie­le ihre Sprache und kulturelle Identität bis in die Ge­genwart bewahren konnten. Wie die amerikanische Ge­schichte davon handelt, wie unser Kontinent amerika­nisch wurde, so handelt die russische Geschichte davon, wie Rußland russisch wurde. Auch Indien, Indonesi­en und Brasilien sind politische Schöpfungen jüngeren Datums (bei Indien handelt es sich um eine Wiederer­schaffung) und Heimat von etwa 850, 670 beziehungs­weise 210 Sprachen.
    Die große Ausnahme von der Regel, daß die großen Staaten der Gegenwart erst in jüngerer Vergangenheit geformt wurden, bildet China, das bevölkerungsreich­ste Land der Erde. In seiner heutigen Form wirkt Chi­na zumindest für den Laien in politischer, kultureller und sprachlicher Hinsicht wie ein Monolith. Es erreichte seine politische Einheit bereits im Jahr 221 v. Chr. und konnte sie seitdem die meiste Zeit behaupten. Seit der Erfindung der Schrift gab es in China nur ein einziges Schriftsystem, während in Europa heute Dutzende mo­difizierter Alphabete in Gebrauch sind. Von den 1,2 Mil­liarden Chinesen sprechen über 800 Millionen Manda­rin, die Sprache mit mehr Sprechern als jede andere auf der Welt. Rund 300 Millionen Chinesen sprechen ande­re Sprachen, die aber mit Mandarin wie auch miteinan­der so eng verwandt sind wie Spanisch und Italienisch. Somit ist China nicht nur kein Schmelztiegel der Völker, sondern es scheint geradezu absurd zu fragen, wie China chinesisch wurde. China war schon immer chinesisch, fast seit Beginn seiner überlieferten Geschichte.
    Uns kommt die scheinbare innere Einheit Chinas so selbstverständlich vor, daß uns gar nicht auffällt, wie er­staunlich sie eigentlich ist. Dagegen sprechen schon ge­netische Unterschiede. Nach einem groben Rassensche­ma gehören alle Chinesen zu den sogenannten Mongoli­den. Hinter dieser Klassifizierung verbergen sich jedoch größere Unterschiede als etwa zwischen Schweden, Ita­lienern und Iren. Insbesondere unterscheiden sich Nord­und Südchinesen genetisch und physisch recht stark von­einander: Während die Nordchinesen den Tibetern und Nepalesen am meisten ähneln, sind die Südchinesen eng mit Vietnamesen und Filipinos verwandt. Meine nord­und südchinesischen Freunde können sich oft gegensei­tig auf einen Blick am Aussehen erkennen: Die Nord­chinesen sind meist größer, schwerer, hellhäutiger, ha­ben spitzere Nasen und kleinere, stärker »geschlitzte« Augen (was von der sogenannten Epikanthus-Lidfalte herrührt).
    Nord- und Südchina unterscheiden sich sowohl land­schaftlich als auch klimatisch voneinander. Der Norden ist trockener und kälter, der Süden feuchter und heißer. Genetische Unterschiede, die sich unter so unterschied­lichen Bedingungen herausbildeten, deuten darauf hin, daß über lange Zeiträume nur begrenzte Kontakte zwi­schen den Völkern Nord- und Südchinas bestanden. Wie kommt es, daß heute dennoch eine weitgehende sprach­liche und kulturelle Einheit zwischen Nord- und Süd­chinesen besteht?
    Daß China offenbar einen nahezu homogenen Sprach­raum bildet, verblüfft auch angesichts der sprachlichen Vielfalt in anderen Regionen der Erde, in denen Men­schen seit langer Zeit siedeln. Wir hatten ja im letzten Kapitel gesehen, daß beispielsweise in Neuguinea, des­sen Fläche weniger als einem Zehntel der Fläche Chinas entspricht und dessen Besiedlungsgeschichte nur etwa 40 000 Jahre zurückreicht, tausend Sprachen gesprochen werden, untergliedert in Dutzende von Sprachfamilien, die sich weit stärker voneinander unterscheiden als die acht wichtigsten chinesischen Sprachen. In Westeuro­pa entstanden allein in den 6000 bis 8000 Jahren seit dem Eintreffen der indogermanischen Sprachen etwa 40 Sprachen, darunter so verschiedenartige wie Englisch, Finnisch und Russisch. Von Fossilienfunden wissen wir aber, daß der Mensch schon vor über einer halben Mil­lion Jahren nach China kam. Was geschah also mit je­nen Zehntausenden von Sprachen,

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