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Arm und Reich

Arm und Reich

Titel: Arm und Reich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jared Diamond
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die dort in einem so langen Zeitraum entstanden sein müssen?
    Alles deutet darauf hin, daß auch in China einst die Vielfalt regierte, wie noch heute in allen anderen gro­ßen, dichtbevölkerten Ländern. Anders war bei China nur, daß der politische Einigungsprozeß sehr viel früher begann. Er umfaßte eine drastische Homogenisierung einer riesigen Region in einem frühzeitlichen Schmelz­tiegel, die Neubesiedlung Südostasiens und die massi­ve Beeinflussung der Entwicklung in Japan, Korea und vielleicht sogar Indien. Die Geschichte Chinas bildet so­mit den Schlüssel zum Verständnis der Geschichte ganz Ostasiens. In diesem Kapitel werde ich davon erzählen, wie China chinesisch wurde.
    Als Ausgangspunkt bietet sich eine Sprachenkarte Chi­nas an (siehe Abb. 15.1). Schon ein kurzer Blick dar­auf verdeutlicht, daß es mit der monolithischen Ein­heit nicht weit her ist. Neben den acht »großen« Spra­chen – Mandarin und seinen sieben engen Verwandten, die oft zusammen als »Chinesisch« bezeichnet und von jeweils zwischen elf und 800 Millionen Menschen ge­sprochen werden – existieren in China noch über 130 »kleine« Sprachen, von denen viele nur wenige tausend Sprecher haben. All diese Sprachen, »große« und »klei­ne«, lassen sich vier verschiedenen Sprachfamilien zu­ordnen, deren Verbreitungsgebiete sich in ihrer Größe stark unterscheiden.
    Das eine Extrem bildet Mandarin mit seinen Verwand­ten, also die chinesische Untergruppe der sinotibetischen Sprachfamilie, die ein geschlossenes Verbreitungsgebiet von Nord- bis Südchina aufweist. Würde man von der Mandschurei im Norden Chinas bis zum Golf von Ton­king im Süden wandern, brauchte man nie das Gebiet zu verlassen, dessen Bewohner als Muttersprache Man­darin oder eine verwandte Sprache sprechen. Die ande­ren drei Sprachfamilien haben stärker zersplitterte Ver­breitungsgebiete; sie gleichen Inseln in einem Meer von Chinesisch und anderen Sprachfamilien.
    Am stärksten zersplittert ist das Verbreitungsgebiet der Miao-Yao-Sprachfamilie mit sechs Millionen Sprechern und etwa fünf Sprachen, die so bunte Namen haben wie Rot-Miao, Weiß-Miao, Schwarz-Miao, Grün-Miao (auch Blau-Miao genannt) und Yao. Miao-Yao-Sprecher leben in Dutzenden kleiner Enklaven, die alle von anderen Sprachfamilien umgeben und über ein Gebiet von fast eineinhalb Millionen Quadratkilometern verstreut sind, das von Südchina bis nach Thailand reicht. Durch über 100 000 Miao-Sprecher, die nach dem Ende des Viet­namkriegs aus ihrer Heimat flohen, wurde die Verbrei­tung dieser Sprachfamilie in jüngster Zeit auch auf die USA ausgedehnt.
    Eine weitere Gruppe von Sprachen ohne geschlosse­nes Verbreitungsgebiet ist die austroasiatische Sprachfa­milie mit den bedeutendsten Vertretern Vietnamesisch und Kambodschanisch. Die 60 Millionen Sprecher au­stroasiatischer Sprachen leben verstreut im Raum zwi­schen Vietnam im Osten, der Malaiischen Halbinsel im Süden und Nordindien im Westen. Die vierte und letz­te Sprachfamilie Chinas ist die Tai-Kadai-Familie (Thai und Lao), deren 50 Millionen Sprecher in dem Gebiet zwischen Südchina, Südthailand und Myanmar im We­sten beheimatet sind (Abb. 15.1).
    Natürlich war die Zersplitterung der Gebiete, in de­nen Miao-Yao-Sprachen gesprochen werden, nicht etwa eine Folge davon, daß ihre Sprecher in grauer Vorzeit per Hubschrauber über die Landschaft schwebten und hier und dort abgesetzt wurden. Vielmehr ist anzuneh­men, daß sie einst ein geschlosseneres Siedlungsgebiet besaßen, in das dann aber Sprecher anderer Sprachen vordrangen, von denen die Miao-Yao-Sprecher entweder verdrängt oder zur Aufgabe ihrer eigenen Sprachen ver­anlaßt wurden. Da sich der Prozeß der sprachlichen Zer­splitterung weitgehend innerhalb der letzten 2500 Jahre abspielte, wissen wir über seinen Verlauf relativ gut Be­scheid. Die Vorfahren der heutigen Thai-, Lao- und Bir­manischsprecher wanderten alle in historischer Zeit von Südchina und den angrenzenden Regionen in ihre heu­tigen Siedlungsgebiete, in denen bis dahin die Nachfah­ren älterer Wanderungsbewegungen lebten. Als beson­ders tatkräftig erwiesen sich bei der Verdrängung und sprachlichen »Bekehrung« anderer ethnischer Gruppen die Sprecher chinesischer Sprachen, die sich überlegen wähnten und auf alle anderen als primitiv herabblickten. Während der Herrschaft der Chou-Dynastie (1100–221 v. Chr.) wurden die meisten in China ansässigen Völker, deren Sprache nicht

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