Arm und Reich
Chinesisch war, unterworfen und in Staaten von Chinesischsprechern eingegliedert.
Für den Versuch, die Sprachenkarte Ostasiens von vor mehreren tausend Jahren zu rekonstruieren, bieten sich mehrere Methoden an. Erstens können wir die bekannten sprachlichen Expansions bewegungen der letzten Jahrtausende auf der Landkarte rückwärts verfolgen. Zweitens können wir in den Fällen, in denen heute ein großes, geschlossenes Gebiet von Sprechern einer einzigen Sprache oder Sprachgruppe bewohnt wird, auf eine erst in jüngerer Zeit erfolgte geographische Expansion dieser Gruppe schließen, was den Grund dafür liefert, daß noch keine Differenzierung in eine Vielzahl von Sprachen stattgefunden hat. Drittens können wir umgekehrt folgern, daß Gebiete, in denen viele verschiedene Sprachen der gleichen Familie gesprochen werden, dichter an dem Zentrum liegen, von dem einst die Verbreitung der jeweiligen Sprachfamilie ausging.
Dreht man die linguistische Uhr auf diese Weise zurück, so ergibt sich, daß Nordchina ursprünglich von Sprechern chinesischer und anderer sinotibetischer Sprachen bewohnt war, daß verschiedene Teile Südchinas von Sprechern der Miao-Yao-, der austroasiatischen und der Tai-Kadai-Sprachen besiedelt waren und daß Sprecher sinotibetischer Sprachen in Südchina die meisten dieser anderen Sprachfamilien ersetzt haben. Noch dramatischer müssen die sprachlichen Umwälzungen gewesen sein, die sich in Südostasien vollzogen – in Thailand, Myanmar, Laos, Kambodscha, Vietnam und auf der Malaiischen Halbinsel. Die Sprachen, die dort ursprünglich gesprochen wurden, müssen allesamt ausgestorben sein, denn bei den heutigen Sprachen dieser Länder handelt es sich offenbar ausnahmslos um neuere Eindringlinge von hauptsächlich südchinesischer und in einigen Fällen indonesischer Herkunft. Da die Miao-Yao-Sprachen dem Aussterben nur knapp entgangen sind, ist zu vermuten, daß in Südchina einst neben Miao-Yao, austroasiatischen und Tai-Kadai-Sprachen noch andere Sprachfamilien beheimatet waren, von denen aber keine bis in die Gegenwart überlebt hat. Wie wir noch sehen werden, könnte die austronesische Sprachfamilie (der alle philippinischen und polynesischen Sprachen angehören) eine solche Familie sein, die vom chinesischen Festland verschwand und die wir nur kennen, weil sie sich in der Inselwelt des Pazifiks ausbreitete und dort bis heute überlebt hat.
Das Verschwinden von Sprachen in Ostasien erinnert an die Ausbreitung europäischer Sprachen, insbesondere des Englischen und Spanischen, in der Neuen Welt, wo einst tausend oder mehr indianische Sprachen gesprochen wurden. Aus unserer eigenen Geschichte wissen wir, daß Englisch die Indianersprachen in den USA nicht deshalb ablöste, weil die Sprache der Weißen in den Ohren der Indianer so schön melodisch klang. Vielmehr war der Triumphzug des Englischen davon begleitet, daß englischsprechende Einwanderer die meisten Indianer gewaltsam oder durch eingeschleppte Krankheiten ins Jenseits beförderten und anschließend die Überlebenden mit Nachdruck dazu trieben, die neue Mehrheitssprache zu übernehmen. Unmittelbare Ursache dieser Vorgänge war die technische und politische Überlegenheit der fremden Eindringlinge aus Europa, deren eigentliche Ursache wiederum in der frühen Entstehung der Landwirtschaft in Eurasien lag. Es waren im Grunde die gleichen Vorgänge, die in Australien zur Verdrängung der Aborigines-Sprachen durch Englisch und in Afrika südlich der Sahara zur Verdrängung der Pygmäen- und Khoisan-Sprachen durch Bantu-Sprachen führten.
Die sprachlichen Umwälzungen in Ostasien werfen somit die Frage auf, was es denn war, das den Sprechern si notibetischer Sprachen die Ausbreitung von Nord- nach Südchina und den Sprechern austroasiatischer und anderer ursprünglich in Südchina beheimateter Sprachen die Ausbreitung nach Südostasien ermöglichte. Zur Beantwortung dieser Frage wollen wir uns an die Archäologie wenden, die uns vielleicht Hinweise auf technische, politische und landwirtschaftliche Vorteile liefern kann, die einige Völker Asiens gegenüber anderen erlangten.
Abbildung 15.1
Die vier Sprachfamilien Chinas und Südostasiens
Abbildung 15.2
Heutige politische Grenzen in Ost- und Südostasien als Interpretationshilfe für Abbildung 15.1
Wie überall auf der Welt kamen an den archäologischen Fundstätten in Ostasien größtenteils Hinterlassenschaften von Jägern und
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