Arm und Reich
Weinbeerenarten kommen in Nordamerika vor, und einige von ihnen wurden auch in jüngerer Vergangenheit mit ihren domestizierten eurasischen Pendants gekreuzt, um wertvollere Sorten zu gewinnen. Warum aber hatten die nordamerikanischen Indianer diese doch offenbar nützlichen Gewächse nicht selbst domestiziert?
Die Reihe derartiger Beispiele ließe sich endlos fortsetzen. Die Sache hat aber einen entscheidenden Haken: Man darf sich die Pflanzendomestikation nicht so vorstellen, daß Jäger und Sammler eine einzige Pflanze domestizierten und ansonsten ihr Nomadenleben fortsetzten. Nehmen wir einmal an, aus den nordamerikanischen Wildäpfeln wäre eine erstklassige Kulturpflanze geworden, wenn die örtlichen Jäger und Sammler seßhaft geworden wären und Apfelbäume kultiviert hätten. Aber nomadische Jäger und Sammler hätten ihre bisherige Lebensweise wohl kaum aufgegeben, um sich in Dörfern niederzulassen und Apfelgärten zu bestellen, wenn nicht eine ganze Reihe weiterer domestizierbarer Wildpflanzen und -tiere verfügbar gewesen wären.
Erst dann hätte eine seßhafte bäuerliche Lebensweise womöglich Vorteile gegenüber der Jagd- und Sammelwirtschaft gehabt.
Kurzum, wie beurteilt man das Domestikationspotential der gesamten Flora einer Region? Im Fall der Indianer, die keine Äpfel domestizierten, lautet die Frage: Lag das Problem bei ihnen oder vielmehr bei den Äpfeln?
Um dieser Frage nachzugehen, wollen wir nun drei Regionen vergleichen, die unter den Zentren unabhängiger Domestikation geographisch am weitesten auseinanderliegen. Wie wir sahen, war eine von ihnen, der Bereich des Fruchtbaren Halbmonds, wahrscheinlich das früheste Zentrum der Landwirtschaft und Ursprungsort einiger der wichtigsten Anbaupflanzen der Gegenwart sowie fast sämtlicher wichtiger Haustiere. In Neuguinea und im Osten der heutigen USA, den beiden anderen Regionen, wurden zwar örtlich vorkommende Pflanzen domestiziert, doch ihre Zahl war sehr gering, und nur eine von ihnen erlangte weltweite Bedeutung, so daß das daraus geschnürte Nahrungspaket nicht als Grundlage einer umfassenden technischen und politischen Entwicklung wie in Vorderasien taugte. Im Licht dieses Vergleichs werden wir fragen, ob Pflanzenwelt und Umwelt in Vorderasien eindeutige Vorteile gegenüber Neuguinea und dem Osten der USA besaßen.
Einer der zentralen Tatbestände der Menschheitsgeschichte ist die frühe Bedeutung eines Teils Vorderasiens, der wegen des sichelförmigen Verlaufs seiner Gebirgszüge den Namen »Fruchtbarer Halbmond« trägt (Abbildung 7.1). Diese Region war offenbar die älteste Stätte einer ganzen Kette von Entwicklungen; so entstanden dort Städte, die Schrift, Reiche und das, was wir (im negativen oder positiven Sinne) »Zivilisation« nennen. Voraussetzung all dieser Entwicklungen waren große Siedlungsdichte, die Erwirtschaftung und Speicherung von Nahrungsüberschüssen und das »Durchfüttern« von nicht in der Landwirtschaft tätigen Spezialisten, ermöglicht durch das Aufkommen von Ackerbau und Viehzucht. Die Landwirtschaft war die erste dieser bedeutenden Neuerungen in Vorderasien. Deshalb muß jeder Versuch, die Ursprünge der modernen Welt zu verstehen, auch Antwort auf die Frage geben, warum die in Vorderasien domestizierten Pflanzen und Tiere dieser Region zu einem so gewaltigen Entwicklungsvorsprung verhalfen.
Abbildung 7.1 Fruchtbarer Halbmond – der Teil Vorderasiens, in dem in verschiedenen Gebieten schon vor 7 000 v. Chr. Land wirtschaft betrieben wurde
Glücklicherweise ist die Entstehung der Landwirtschaft im Bereich des Fruchtbaren Halbmonds unter allen Regionen der Erde mit Abstand am gründlichsten untersucht worden. Für die meisten Anbaupflanzen, die dort oder in benachbarten Gebieten domestiziert wurden, konnten die wildwachsenden Vorfahren ermittelt werden; ihre enge Verwandtschaft wurde durch genetische Untersuchungen nachgewiesen; ihr natürliches Verbreitungsgebiet ist bekannt; ihre Veränderungen im Zuge der Domestikation wurden bestimmt und konnten oft einzelnen Genen zugeordnet werden; die Veränderungen sind in übereinanderliegenden Schichten von Ausgrabungsstätten zu beobachten; und schließlich sind auch in etwa Ort und Zeitpunkt der Domestikation bekannt. Ich will nicht abstreiten, daß andere Gebiete, vor allem China, ebenfalls Vorteile als Stätte früher Domestikation besaßen. Am detailliertesten belegt sind diese
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