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Arm und Reich

Arm und Reich

Titel: Arm und Reich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jared Diamond
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Weinbeerenarten kommen in Nordamerika vor, und einige von ihnen wurden auch in jüngerer Vergangenheit mit ihren domestizierten eu­rasischen Pendants gekreuzt, um wertvollere Sorten zu gewinnen. Warum aber hatten die nordamerikanischen Indianer diese doch offenbar nützlichen Gewächse nicht selbst domestiziert?
    Die Reihe derartiger Beispiele ließe sich endlos fort­setzen. Die Sache hat aber einen entscheidenden Ha­ken: Man darf sich die Pflanzendomestikation nicht so vorstellen, daß Jäger und Sammler eine einzige Pflanze domestizierten und ansonsten ihr Nomadenleben fort­setzten. Nehmen wir einmal an, aus den nordamerika­nischen Wildäpfeln wäre eine erstklassige Kulturpflanze geworden, wenn die örtlichen Jäger und Sammler seß­haft geworden wären und Apfelbäume kultiviert hät­ten. Aber nomadische Jäger und Sammler hätten ihre bisherige Lebensweise wohl kaum aufgegeben, um sich in Dörfern niederzulassen und Apfelgärten zu bestel­len, wenn nicht eine ganze Reihe weiterer domestizier­barer Wildpflanzen und -tiere verfügbar gewesen wären.
    Erst dann hätte eine seßhafte bäuerliche Lebensweise womöglich Vorteile gegenüber der Jagd- und Sammel­wirtschaft gehabt.
    Kurzum, wie beurteilt man das Domestikationspoten­tial der gesamten Flora einer Region? Im Fall der India­ner, die keine Äpfel domestizierten, lautet die Frage: Lag das Problem bei ihnen oder vielmehr bei den Äpfeln?
    Um dieser Frage nachzugehen, wollen wir nun drei Regionen vergleichen, die unter den Zentren unabhän­giger Domestikation geographisch am weitesten ausein­anderliegen. Wie wir sahen, war eine von ihnen, der Be­reich des Fruchtbaren Halbmonds, wahrscheinlich das früheste Zentrum der Landwirtschaft und Ursprungsort einiger der wichtigsten Anbaupflanzen der Gegenwart sowie fast sämtlicher wichtiger Haustiere. In Neuguinea und im Osten der heutigen USA, den beiden anderen Regionen, wurden zwar örtlich vorkommende Pflanzen domestiziert, doch ihre Zahl war sehr gering, und nur eine von ihnen erlangte weltweite Bedeutung, so daß das daraus geschnürte Nahrungspaket nicht als Grundla­ge einer umfassenden technischen und politischen Ent­wicklung wie in Vorderasien taugte. Im Licht dieses Ver­gleichs werden wir fragen, ob Pflanzenwelt und Umwelt in Vorderasien eindeutige Vorteile gegenüber Neugui­nea und dem Osten der USA besaßen.
    Einer der zentralen Tatbestände der Menschheitsge­schichte ist die frühe Bedeutung eines Teils Vorderasi­ens, der wegen des sichelförmigen Verlaufs seiner Ge­birgszüge den Namen »Fruchtbarer Halbmond« trägt (Abbildung 7.1). Diese Region war offenbar die älteste Stätte einer ganzen Kette von Entwicklungen; so ent­standen dort Städte, die Schrift, Reiche und das, was wir (im negativen oder positiven Sinne) »Zivilisation« nennen. Voraussetzung all dieser Entwicklungen waren große Siedlungsdichte, die Erwirtschaftung und Spei­cherung von Nahrungsüberschüssen und das »Durch­füttern« von nicht in der Landwirtschaft tätigen Spezia­listen, ermöglicht durch das Aufkommen von Ackerbau und Viehzucht. Die Landwirtschaft war die erste die­ser bedeutenden Neuerungen in Vorderasien. Deshalb muß jeder Versuch, die Ursprünge der modernen Welt zu verstehen, auch Antwort auf die Frage geben, warum die in Vorderasien domestizierten Pflanzen und Tiere dieser Region zu einem so gewaltigen Entwicklungs­vorsprung verhalfen.

    Abbildung 7.1 Fruchtbarer Halbmond – der Teil Vorderasiens, in dem in verschiedenen Gebieten schon vor 7 000 v. Chr. Land wirtschaft betrieben wurde
    Glücklicherweise ist die Entstehung der Landwirt­schaft im Bereich des Fruchtbaren Halbmonds unter al­len Regionen der Erde mit Abstand am gründlichsten untersucht worden. Für die meisten Anbaupflanzen, die dort oder in benachbarten Gebieten domestiziert wur­den, konnten die wildwachsenden Vorfahren ermittelt werden; ihre enge Verwandtschaft wurde durch gene­tische Untersuchungen nachgewiesen; ihr natürliches Verbreitungsgebiet ist bekannt; ihre Veränderungen im Zuge der Domestikation wurden bestimmt und konn­ten oft einzelnen Genen zugeordnet werden; die Verän­derungen sind in übereinanderliegenden Schichten von Ausgrabungsstätten zu beobachten; und schließlich sind auch in etwa Ort und Zeitpunkt der Domestikation be­kannt. Ich will nicht abstreiten, daß andere Gebiete, vor allem China, ebenfalls Vorteile als Stätte früher Dome­stikation besaßen. Am detailliertesten belegt sind die­se

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