Arm und Reich
Vorteile und die aus ihnen resultierende Entstehung von Anbaupflanzen jedoch für Vorderasien.
Einer der Vorteile des Fruchtbaren Halbmonds ist seine Lage inmitten einer mediterranen Klimazone, sprich einem Gebiet mit milden, feuchten Wintern und langen, heißen, trockenen Sommern. Unter solchen klimatischen Bedingungen gedeihen vor allem Pflanzen, die in der Lage sind, die lange Trockenzeit zu überdauern und bei Wiederkehr des Regens schnell aus der Erde zu sprießen. Viele Pflanzen Vorderasiens, insbesondere Gräser und Hülsenfrüchte, paßten sich an diese Bedingungen in einer für den Menschen nützlichen Weise an: Es waren einjährige Pflanzen, die in der Trockenzeit austrocknen und absterben.
Innerhalb ihrer auf ein Jahr beschränkten Lebensspanne bleiben einjährige Pflanzen zwangsläufig kleinwüchsig. Viele investieren ihre Energie statt in hochschießendes Wachstum in die Ausbildung großer Samenkörner, die während der Trockenzeit im Ruhezustand verharren und bei einsetzendem Regen zu sprießen beginnen. Einjährige Pflanzen verwenden mithin, anders als Bäume und Büsche, wenig Energie auf die Erzeugung von Holz und faserigen Stengeln. Dagegen sind viele der großen Samenkörner, insbesondere von einjährigen Getreidearten und Hülsenfrüchten, für Menschen genießbar. Sie stellen sechs der zwölf wichtigsten Anbaupflanzen der Gegenwart dar. Wer indes in waldreicher Umgebung lebt, wird beim Blick aus dem Fenster bemerken, daß die meisten Pflanzenarten vor seinen Augen Bäume und Sträucher sind, die nur einen geringen Teil ihrer Energie in eßbare Samen umwandeln. Zwar gibt es in Gebieten mit feuchtem Klima durchaus Bäume, die große, eßbare Samen hervorbringen, doch diese besitzen nicht die nötige Anpassung, um lange Trockenzeiten unbeschadet zu überstehen, und sind deshalb auch für eine längere Aufbewahrung durch den Menschen ungeeignet.
Ein zweiter Vorteil, den die Flora Vorderasiens gegenüber anderen Regionen besaß, lag darin, daß die wildwachsenden Vorfahren vieler dortiger Kulturpflanzen bereits weit verbreitet und sehr ertragreich waren, so daß ihr Nutzen den örtlichen Sammlern kaum verborgen bleiben konnte. In experimentellen Studien, bei denen Botaniker etwa so, wie es Sammler vor über 10 000 Jahren getan haben mögen, Samen von natürlichem Wildgetreide ernteten, konnte gezeigt werden, daß jährliche Erträge von bis zu einer Tonne Samen pro Hektar möglich sind – das entspricht 50 Kilokalorien Nahrungsenergie bei einem Energieeinsatz von nur einer Kilokalorie. Indem sie große Mengen Wildgetreide innerhalb eines kurzen Zeitraums nach der Samenreife ernteten und anschließend als Nahrungsreserve für den Rest des Jahres lagerten, wurden einige Jäger- und Sammlervölker Vorderasiens schon zu seßhaften Dorfbewohnern, noch bevor sie damit begannen, selbst Pflanzen zu kultivieren.
Da die Getreidearten Vorderasiens schon in ihren Wildformen ertragreich waren, bedurfte es zu ihrer Domestikation nur geringfügiger Veränderungen. Wie im vorigen Kapitel erörtert, stellten sich die wichtigsten davon – der Verlust der natürlichen Samenverbreitungsmittel und des Keimverzugs – automatisch und binnen kurzer Zeit ein, nachdem Menschen damit begonnen hatten, die Samen auf Feldern zu säen. Die wildwachsenden Vorfahren von Weizen und Gerste sehen unseren heutigen Getreidesorten so ähnlich, daß nie Zweifel hinsichtlich der Abstammung aufkamen. Da ihre Domestikation so einfach war, befanden sich großsamige einjährige Pflanzen unter den ersten Anbaugewächsen, die nicht nur in Vorderasien, sondern auch in China und in der Sahelzone Bedeutung erlangten.
Man vergleiche einmal diese rasche Evolution von Weizen und Gerste mit dem Aufstieg von Mais, der wichtigsten Getreidepflanze der Neuen Welt. Der vermutete Maisvorfahr, eine Wildpflanze namens Teosinte, unterscheidet sich in Samen und Blütenbau so sehr von Mais, daß unter Botanikern lange umstritten war, ob Mais überhaupt von Teosinte abstammt. Der Wert dieser Pflanze als Nahrungslieferant dürfte Jäger und Sammler kaum sonderlich beeindruckt haben: Sie war in freier Natur nicht halb so ertragreich wie Wildweizen, produzierte viel weniger Samenkörner als der spätere Mais, und ihre Samen waren in harten, ungenießbaren Schalen verborgen. Damit aus Teosinte ein nützliches Anbaugewächs werden konnte, mußte sich ihre Reproduktionsbiologie
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