Arm und Reich
grundlegend ändern, ihre Samen mußten viel größer werden, und die harten Schalen um die Körner mußten verschwinden. Unter Archäologen wird immer noch lebhaft darüber debattiert, wie viele Jahrhunderte oder sogar Jahrtausende wohl vergingen, bis die anfangs winzigen Maiskolben auch nur daumengroß waren. Klar erscheint indessen, daß es weitere Jahrtausende dauerte, bis Maiskolben von heutiger Größe geerntet werden konnten. Diese Diskrepanz zwischen den natürlichen Vorzügen von Weizen und Gerste und den Schwierigkeiten bei der Domestikation von Teosinte waren womöglich von entscheidender Bedeutung für die unterschiedliche Entwicklung der Gesellschaften in Eurasien und der Neuen Welt.
Ein dritter Vorteil der Pflanzenwelt Vorderasiens besteht darin, daß sie einen hohen Prozentsatz zwittriger Selbstbestäuber aufweist, das heißt von Pflanzen, die sich normalerweise selbst befruchten, wobei gelegentliche Kreuzbefruchtungen möglich sind. Wie schon erwähnt, sind die meisten Wildpflanzen entweder regelmäßig kreuzbefruchtete Zwitter oder sie treten in getrennter männlicher und weiblicher Form auf und sind auf gegenseitige Bestäubung angewiesen. Diese Fakten der Reproduktionsbiologie stellten frühzeitliche Bauern vor große Probleme, da immer dann, wenn sie einen ertragreichen Mutanten entdeckt hatten, dessen Nachkommen die geerbten Vorzüge durch Kreuzung mit anderen Pflanzen wieder verloren. Nicht zuletzt war dies der Grund, warum die meisten Kulturpflanzen zu dem geringen Prozentsatz von Wildpflanzen gehören, die entweder selbstbestäubende Zwitter sind oder sich durch ungeschlechtliche Fortpflanzung vermehren (z. B. durch Bildung genetischer Doppelgänger aus den Wurzeln einer Mutterpflanze). Der hohe Anteil zwittriger Selbstbestäuber an der Pflanzenwelt Vorderasiens stellte deshalb einen Vorteil für frühe Bauern dar, bedeutete er doch, daß ein hoher Prozentsatz der Wildpflanzen eine für den Menschen günstige Reproduktionsbiologie besaß.
Ein weiterer Vorteil von Selbstbestäubern lag darin, daß es bei ihnen von Zeit zu Zeit zu Kreuzbefruchtungen kam, wobei neue Sorten entstanden, unter denen dann ausgewählt werden konnte. Die gelegentlichen Kreuzbefruchtungen beschränkten sich nicht auf Pflanzen der gleichen Art, sondern bezogen auch verwandte Arten mit ein. Eine solche Artenkreuzung unter den Selbstbestäubern Vorderasiens brachte zum Beispiel den Brotweizen hervor, eine der wertvollsten Anbaupflanzen der Gegenwart.
Die ersten acht bedeutenden Anbaupflanzen, die in Vorderasien domestiziert wurden, waren ausnahmslos Selbstbestäuber. Von den drei Getreidearten darunter – Einkornweizen, Emmerweizen und Gerste – besaßen die beiden Weizensorten den zusätzlichen Vorteil eines hohen Eiweißgehalts (8–14 Prozent). Demgegenüber hatten die bedeutendsten Getreidepflanzen Ostasiens und der Neuen Welt – Reis und Mais – den Nachteil eines geringeren Eiweißgehalts.
Damit sind einige der Vorteile genannt, die Vorderasiens Pflanzenwelt für die ersten Bauern bereithielt: Sie wies einen ungewöhnlich hohen Anteil von Wildpflanzen auf, die sich zur Domestikation eigneten. Die mediterrane Klimazone, in der Vorderasien liegt, erstreckt sich jedoch nach Westen über einen großen Teil Europas und den Nordwesten Afrikas. Überdies weisen vier andere Regionen der Welt ebenfalls Zonen mit mediterranem Klima auf: Kalifornien, Chile, Südwestaustralien und Südafrika (Abbildung 7.2). Diese anderen Regionen waren aber nicht nur keine frühen Stätten der Landwirtschaft, sondern zählten überhaupt nicht zu den Orten, an denen sie unabhängig entstand. Was unterschied jene mediterrane Klimazone im Westen Eurasiens von allen anderen?
Abbildung 7.2 Die mediterranen Klimazonen der Welt
Wie sich herausstellt, hatte sie, und insbesondere ihr vorderasiatischer Teil, mindestens fünf Vorteile gegenüber anderen mediterranen Klimazonen. Erstens besitzt das westliche Eurasien bei weitem die größte Zone mit mediterranem Klima und weist deshalb eine viel größere pflanzliche und tierische Artenvielfalt auf als die vergleichsweise winzigen mediterranen Klimazonen Südwestaustraliens und Chiles. Zweitens sind die Klimaverhältnisse in Vorderasien von allen mediterranen Klimazonen am extremsten, mit starken Schwankungen zwischen den Jahreszeiten, aber auch von Jahr zu Jahr. Diese Schwankungen begünstigten die Evolution einjähriger
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