Armageddon 04 - Der Neutronium-Alchimist
benommener Zustand wich Verwirrung. Collins hatte seit einer Woche nicht mehr angerufen (vielleicht auch länger); nicht mehr seit ihrem Interview mit dem Bischof von Tranquility, als sie ihn wütend angebrüllt hatte, weil Gott so grausam war und seinen ahnungslosen Geschöpfen eine Qual wie das Jenseits auferlegt hatte.
Das Signal ertönte von neuem. Kelly richtete sich auf – und übergab sich prompt über die Bettkante. Übelkeit erfaßte ihren gesamten Körper und vermischte ihre Gedanken und Erinnerungen zu etwas, das das genaue Gegenteil ihre virtuellen Realität war: Lalonde in all seiner infernalischen Pracht. Sie hustete, und ihre blassen Gliedmaßen zitterten unkontrolliert. Die große Narbe auf ihren Rippen brannte. Auf dem Nachttisch stand ein Glas, halbvoll mit einer klaren Flüssigkeit, von der sie fiebrig hoffte, daß es Wasser war. Sie packte es mit zitternder Hand und verschüttete ein Gutteil, bevor sie es an die Lippen bringen und einen Schluck nehmen konnte. Wenigstens erbrach sie nicht gleich wieder alles.
Sie drohte an ihrem Elend zu ersticken, als sie schließlich die Beine aus dem Bett schwang und sich eine Decke über die nackten Schultern zog. Das medizinische Programm ihrer neuralen Nanonik informierte sie, daß der Zuckerspiegel gefährlich gesunken und sie am Rand der Dehydrierung war. Sie deaktivierte das Programm. Das Signal ertönte zum dritten Mal.
»Verschwinde«, brummte sie. Das Licht schien durch ihre Augäpfel hindurchzugehen und ihr empfindliches Gehirn zu verbrennen. Sie pumpte ihre Lungen voll mit Luft und versuchte sich zu erinnern, warum ihre Nanonik das Stimulationsprogramm abgeschaltet hatte. Die banale Tatsache, daß jemand den Netzprozessor ihres Appartements anrief, war jedenfalls kein ausreichender Grund. Vielleicht wurden die unglaublich dünnen Fasern, die ihre Nanonik mit den synaptischen Spalten verband, durch die gestörte Körperchemie beeinträchtigt?
»Wer ist da?« fragte sie per Datavis, während sie unsicher durch das Wohnzimmer taumelte.
»Lieria.«
Kelly kannte niemanden diesen Namens, zumindest nicht, ohne vorher ihre Speicherzellen abzufragen. Sie ließ sich in einen der tiefen Sessel fallen, zog die Decke über die Beine und befahl dem Kontrollprozessor der Tür, den Besucher hereinzulassen.
Draußen im Vestibül stand eine erwachsene Kiint. Kelly blinzelte ungläubig im hellen Licht, das rings um den mächtigen schneeweißen Leib in ihr Wohnzimmer fiel. Ihre Kinnlade sank herab, und schließlich begann sie hysterisch zu lachen. Sie hatte es geschafft. Sie hatte es tatsächlich geschafft, ihr Gehirn mit den Stimulationsprogrammen total zu versauen.
Lieria bückte sich ein wenig und kam durch die Tür, ganz vorsichtig, um kein Mobiliar umzustoßen. Sie mußte sich ziemlich anstrengen, um die Hauptsektion ihres Körpers durch die kleine Öffnung zu zwängen, doch schließlich gelang es ihr. Ein paar Nachbarn von Kelly standen draußen im Vestibül und betrachteten voller Neugier das Schauspiel.
Die Tür schloß sich wieder, ohne daß Kelly einen entsprechenden Befehl gegeben hätte. Das Lachen war ihr im Hals steckengeblieben, und das schreckliche Zittern drohte zurückzukehren. Das hier geschah tatsächlich.
Es war keine Halluzination. Das Verlangen, ihr Stimulationsprogramm zu reaktivieren und in ihre falsche Realität zurückzukehren, wurde übermächtig.
Lieria nahm fast ein Fünftel des gesamten Zimmers ein. Ihre beiden traktamorphen Arme waren zu großen fleischigen Kugeln zusammengezogen, und ihr dreieckiger Kopf schwang leicht von einer Seite zur anderen, als sie mit ihren riesigen Augen das Zimmer musterte. Seit Wochen hatte kein Hausschimp mehr aufgeräumt, in den Ecken sammelte sich der Staub, die Küchentür stand offen und zeigte Arbeitsflächen, die überhäuft waren mit leeren Essensverpackungen und benutztem Geschirr. Ein unordentlicher Haufen getragener Wäsche verunzierte eine Ecke, der Schreibtisch war übersät mit Fleks und Prozessorblocks. Die Kiint richtete ihren Blick wieder auf Kelly, die sich in ihrem tiefen Sessel enger zusammenrollte.
»Wie … wie sind Sie hier heruntergekommen?« war alles, was Kelly fragen konnte.
»Ich habe den Wartungslift genommen«, antwortete Lieria per Datavis. »Es war sehr eng.«
Kellys Unterkiefer sank herab. »Ich wußte gar nicht, daß Sie dazu in der Lage sind.«
»Was denn, einen Lift zu benutzen?«
»Nein, per Datavis zu kommunizieren.«
»Wir beherrschen einige
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