Armageddon 05 - Die Besessenen
durchschnittlich fünfunddreißig neue hinzu. Zehntausende interorbitaler Fahrzeuge flitzten zwischen den rotierenden Felsen hin und her, und die Helligkeit ihrer Fusionsantriebe vermischte sich zu einem einzigen blitzenden Nimbus. Jeder Asteroid bildete eine winzige dichtere Stelle in dem Band, eingehüllt in einen hauchfeinen Nebel aus Industriestationen.
Louise starrte auf das kurzlebige Zeugnis interorbitalen Kommerzes. Zerbrechlicher als die Himmelsbrücke über Norfolks Mittsommerhimmel und zugleich unendlich viel beeindruckender. Der Anblick erweckte neue Zuversicht. Die Erde war so stark, viel stärker, als Louise jemals gedacht hätte; sie entsprang einem Reichtum, den Louise, wie ihr bewußt wurde, niemals völlig begreifen würde.
Wenn wir irgendwo sicher sind, dann ist es hier. Sie legte einen Arm um Genevieve. Zum ersten Mal seit langer Zeit spürte sie so etwas wie Zufriedenheit.
Neben dem majestätischen Anblick des O’Neill-Halos lag die Erde beinahe still. Lediglich die Küstenlinien von Nord- und Südamerika verrieten, daß unten auf der Oberfläche des alten Planeten wenigstens gleichviel menschliche Aktivitäten herrschten. Sie lagen im Dunkeln und warteten darauf, daß die Dämmerungslinie über den Atlantik herbeieilte, doch die Nacht verhinderte nicht, daß Louise genau erkannte, wo Menschen lebten.
Das Licht der Arkologien durchdrang die Schwärze wie Vulkane aus hellem Sonnenlicht.
»Sind das die Städte?« fragte Genevieve aufgeregt.
»Ich denke schon, ja.«
»Meine Güte! Warum hat das Wasser so eine merkwürdige Farbe?«
Louise richtete ihre Aufmerksamkeit weg von den massiven Lichtflecken und auf den Ozean. Er schimmerte in einem eigenartigen Grau-Grün, ganz und gar nicht wie das warme Türkis von Norfolks Meeren unter dem grellen weißen Licht Dukes.
»Ich weiß es nicht genau. Aber es sieht nicht besonders sauber aus, oder? Ich schätze, das muß die Umweltverschmutzung sein, von der wir gehört haben.«
Ein leiser Seufzer unmittelbar hinter ihnen ließ die beiden Mädchen zusammenzucken. Es war das erste Mal, daß jemand außer den Stewards auch nur von der bloßen Existenz der Mädchen Kenntnis zu nehmen schien. Als sie sich umdrehten, standen sie einem kleinen Mann in einem dunkelroten Geschäftsanzug gegenüber. Er hatte bereits die ersten dünnen Falten auf den Wangen, obwohl er nicht sonderlich alt zu sein schien. Louise war von seiner Größe überrascht; er war sicherlich einen Zoll kleiner als sie selbst, und er besaß eine sehr hohe Stirn, als wollte sein Haar oben auf dem Kopf nicht richtig wachsen.
»Ich weiß, ich bin unhöflich«, begann der Fremde leise, »aber gehe ich recht in der Annahme, daß Sie von außerhalb unseres Sonnensystems kommen?«
»Ja«, antwortete Louise. »Wir kommen genaugenommen von Norfolk.«
»Ah. Ich fürchte, ich weiß nicht einmal, wie die berühmten Norfolk Tears schmecken. Sie sind einfach zu kostspielig, selbst mit meinem Gehalt. Ich war sehr bestürzt, als ich von Norfolks Verschwinden gehört habe.«
»Danke sehr.« Louises Gesicht blieb vollkommen ausdruckslos, genau wie früher, wenn Daddy angefangen hatte zu schreien.
Der Mann stellte sich als Aubry Earle vor.
»Ist das Ihr erster Besuch auf der Erde?« erkundigte er sich.
»Ja«, antwortete Genevieve. »Wir wollen eigentlich nach Tranquility, aber wir haben bis jetzt noch keinen Flug finden können.«
»Ich verstehe. Dann ist das alles völlig neu?«
»Zum Teil«, sagte Louise. Sie war nicht ganz sicher, worauf Aubry hinauswollte. Er schien nicht der Typ zu sein, der sich zweier junger Mädchen annahm. Jedenfalls nicht aus reiner Selbstlosigkeit.
»Dann erlauben Sie, daß ich Ihnen erkläre, was Sie sehen. Die Ozeane sind nicht verschmutzt, jedenfalls nicht schlimm. Gegen Ende des einundzwanzigsten Jahrhunderts wurden extensive Anstrengungen unternommen, um die Meere zu reinigen. Ihre gegenwärtige Farbe kommt von Algenblüten. Es sind genetisch manipulierte Sorten, die an der Oberfläche treiben. Auch für mich sieht es nicht besonders einladend aus.«
»Aber diese Algen sind überall!« sagte Genevieve.
»Ja, selbstverständlich. Das ist heutzutage unsere Kohlendioxidfalle. Die Lungen der Erde, wenn Sie so wollen, junges Fräulein. Sie erledigen die Aufgabe, die einst Wälder und Forste innehatten. Die Oberflächenvegetation ist nicht mehr das, was sie einmal war, deswegen führte GovCentral die Algen ein. Damit wir nicht ersticken. Genaugenommen ist es ein viel
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