Armageddon 06 - Der nackte Gott
Augenblick dringend benötigt.«
»Deswegen ist das, was mit Louise geschehen ist, noch lange nicht fair. Sie leidet ohne eigenes Verschulden. Falls dieser Schlafende Gott so machtvoll ist, wie die Tyrathca glauben, dann muß er uns einige Dinge erklären.«
»Wir sagen das gleiche über unsere Götter, seit wir sie erträumt haben. Es ist ein Trugschluß anzunehmen, daß dieser Gott unsere Moral und Ethik teilt. Im Gegenteil, es ist sogar ganz offensichtlich, daß er es nicht tut. Wäre es anders, hätte all das niemals geschehen können. Wir würden alle im Paradies leben.«
»Du meinst, der Disput um die göttliche Intervention wird niemals enden?«
»Jepp. Freier Wille bedeutet, daß wir unsere eigenen Entscheidungen treffen müssen. Ohne einen freien Willen ist das Leben ohne jede Bedeutung. Wir wären Insekten, die nur das tun, was unsere Instinkte uns sagen. Ein Bewußtsein ist schließlich nicht irgend etwas.«
Joshua beugte sich vor und küßte sie dankbar auf die Stirn. »Es bringt uns üblicherweise immer nur in Schwierigkeiten. Ich meine, sieh mich doch an! Ich bin ein Wrack! Empfindungen tun weh!«
Sie gingen gemeinsam auf die Brücke hinaus. Liol und Dahybi lagen auf ihren Beschleunigungsliegen und sahen aus, als langweilten sie sich. Samuel kam auf der anderen Seite aus der Schleusenluke.
»Das war eine ziemlich lange Wachübergabe«, bemerkte Liol gereizt.
»Hast du uns vermißt?« entgegnete Joshua.
»Du magst vielleicht den Körper eines Calvert besitzen, aber vergiß nicht, wer von uns beiden die größere Erfahrung besitzt.«
»Nicht auf allen Gebieten, Bruder, ganz bestimmt nicht.«
»Ich bin weg«, verkündete Dahybi laut und löste seine Sicherheitsgurte. Das Netz über seiner Liege rollte sich zusammen, und er schwang die Füße über die Seite. »Kommst du mit, Sarha?«
Joshua und Liol grinsten sich an. Joshua deutete freundlich in Richtung Bodenluke, und Liol bedankte sich mit einer graziösen Verbeugung. »Danke sehr, Kommandant.«
»Wenn ihr in die Kombüse geht – ich könnte ein Frühstück vertragen«, rief Joshua ihnen hinterher. Niemand antwortete. Er und Samuel legten sich auf ihre Beschleunigungsliegen. Der große Edenit wurde mehr und mehr zu einem zuverlässigen Systemoffizier und half der Besatzung aus, genau wie die anderen Mitglieder des wissenschaftlichen Teams, die an Bord der Lady Macbeth mitreisten. Selbst Monica trug ihren Teil dazu bei.
Joshua schaltete eine Verbindung zum Bordrechner. Flugbahnvektoren und Statusdiagramme überlagerten die Bilder von den externen Sensoren. Der Raum draußen sah beeindruckend aus.
Drei Lichtjahre voraus erstrahlte Mastrit-PJ in intensiv rotem Licht, das sich auf dem matten Schaum brach, in den der Rumpf der Lady Macbeth gebettet war. Der Orion-Nebel bedeckte den halben Horizont im galaktischen Norden: eine phantastische dreidimensionale Tapisserie aus leuchtenden Gasen mit einer wilden, turbulenten Oberfläche, zusammengesetzt aus purpurnen, grünen und türkisfarbenen Wolken, die wie konkurrierende Ozeane aufeinanderprallten. Ihr Millionen Jahre alter Widerstreit erzeugte chaotische, energiegeladene Protuberanzen, die in alle Richtungen schossen. Im Innern des Nebels ruhten unzählige Proplyden, leuchtende protoplanetare Scheiben, die aus dem Mahlstrom heraus kondensierten. Mitten im Herzen lag das Trapezium, die vier heißesten, schwersten Sterne, deren phänomenaler ultravioletter Ausstoß den gewaltigen Nebel aus interstellarem Gas von innen heraus energetisch anregte und zum Leuchten brachte.
Joshua hatte die unendlich variantenreiche Topologie des Gebildes zu schätzen gelernt, während sie langsam den konföderierten Weltraum hinter sich gelassen hatten und um den Nebel herumgeflogen waren. Er war auf eine Art und Weise lebendig, wie kein biologisches Wesen es sein konnte. Seine Strömungen und molekularen Schwärme waren Milliarden Male komplexer als alles, was man in einer auf Kohlenwasserstoff basierenden Zelle finden konnte. Ebbe und Flut in geologischen Maßstäben und doch nahezu unfaßbar schnell. Die jungen, pulsierenden Sterne, die sich im Nebel drängten, stießen gewaltige Ströme an ultraheißen Gasen aus, und die resultierenden Schockwellen breiteten sich mit mehr als hundertfünfzigtausend Stundenkilometern aus. Sie besaßen die Form von Schleifen, die sich in Sinuskurven wanden und verdrehten, und ihre ausgefransten Enden schimmerten hell, während sie die wilden Energiestöße abstrahlten, die durch
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