Armee der Toten
einfach nur für eine sehr hübsche, feminine und normale Frau halten. Nichts an ihr wies darauf hin, dass Karina Grischin auch ein anderes Gesicht hatte.
Einige Minuten später verließen wir das Hotel. Der Wind biss kalt gegen unsere Gesichter. Wenn mich nicht alles täuschte, kam er aus Nordost.
Der alte Mercedes, der noch immer seine Pflicht tat, parkte bewacht hinter dem Hotel auf einem dafür vorgesehenen Platz. Beim Einsteigen sagte Karina: »Bisher weiß von der Gegenseite niemand, wer ihnen auf der Spur ist, denke ich. Die Typen im Auto unten im Hof werden die Schüsse gehört haben. Sie sind auch im Besitz des Koffers, aber sie wissen nicht, wer hinter ihnen her ist.«
Ich schloss die Tür. »Keine Sorge, das bekommen sie früh genug heraus.«
Karina lächelte hart. »Dann, mein lieber John, wird es für sie zu spät sein.«
Diesmal schwieg ich. So optimistisch wie Karina Grischin war ich leider nicht...
***
Schon Stunden vorher hatte mir Karina Grischin erklärt, dass wir aus Moskau raus mussten, und das gestaltete sich als Problem, denn auch hier gab es die Rush Hour. Mehr als einmal steckten wir fest, und dann meldete sich auch noch Karina’s Handy.
Sie lachte, nachdem sie ihren Namen gesagt hatte. In meiner Sprache erklärte sie: »Ja, er sitzt neben mir.« Sie reichte mir das Handy.
»Wer ist es denn?«
»Lass dich überraschen.«
»Hallo, John...«
Ich lachte laut auf. »Wladimir, du alter Eisenfresser. Ich frage nicht, wie es dir geht und...«
»Das brauchst du auch nicht. Aber du kannst mir glauben, dass ich gern bei euch wäre.«
»Nehme ich dir sogar ab.« Ich schaute gegen die Frontscheibe, über die ein Muster aus blattlosen Ästen und Zweigen hinwegzog, denn wir fuhren an einer Straße vorbei, an der zahlreiche Bäume standen.
»Karina hat mich informiert. Ich habe mich in der letzten Stunde erkundigt und mich umgehört. Leider kann ich euch nicht helfen. Dieser Kromow ist die einzige Spur, und sein Kontakt zur Außenwelt ist seit einigen Jahren abgebrochen.«
»Seine Leiche hat man auch nicht gefunden – oder?«
»Nein, John. Ich gehe davon aus, dass er noch lebt, und glaube weiterhin daran, dass er für irgendjemanden arbeitet. Ob für eine Organisation oder für eine Einzelperson, das möchte ich dahingestellt sein lassen, aber ich gehe davon aus, dass er diese Dinge nicht allein durchzieht. Jemand hat ihn in eine bestimmte Richtung gedrängt.«
»Hast du da einen Verdacht?«
»Nein. Aber es gibt hier in unserem Land verdammt viele Typen, die sich als kleine Zaren fühlen und sich auf immer neuen Gebieten hervortun. So könnte derjenige sein, der hinter Kromow steht. Er kann einem Typen in die Hände gefallen sein, hinter dem dann die Macht steht, die wir bekämpfen, und der sich mit ihrer Hilfe ganz nach oben drängen will.«
»Nicht schlecht gedacht.«
»Gut, John. Ihr werdet es herausfinden. Solltet ihr Hilfe brauchen, gebt Alarm. Ich kann euch eine Truppe schicken.«
»Mal sehen, Wladimir. Oft kommt man zu zweit schneller ans Ziel als mit einer halben Kompanie.«
»Ich wünsche es euch.«
»Willst du Karina noch mal sprechen?«
»Wenn das geht.«
Es ging, denn wir mussten an einer Ampel stoppen. Die beiden sprachen miteinander, und ich erlebte zum ersten Mal, dass sie sich mochten. Deshalb lebten sie inzwischen auch zusammen.
Der große Transporter vor uns setzte sich wieder in Bewegung. Aus dem Auspuff quoll eine Wolke, die sich wie ein Tablett aus Nebel auf unserer Kühlerhaube ausbreitete. Auch im Innern war sie zu riechen, weil das Zeug durch die Lüftung gedrungen war.
Leider hatten wir keine Chance, den Wagen zu überholen, der zudem noch hoch beladen war. Allerdings war der Verkehr ausgedünnt, dafür gab es ein anderes Problem. Die City lag hinter uns, und nun waren die Straßen schlechter geworden. Eiskalte Winter und brutheiße Sommer hatten dem Belag zugesetzt, so dass die Schlaglöcher kaum noch zu zählen waren und es keinen Sinn hatte, ihnen ausweichen zu wollen.
Aber es gab eine Stelle, an der wir endlich den Stinker vor uns überholen konnten. Von nun an drückte Karina aufs Gas, und der alte Benz tat sein Bestes.
Karina hatte mir eine Karte gegeben, die auf meinen Knien lag. Der Weg war eingezeichnet. Am Ziel hatte sie einen dicken roten Kreis hingemalt. Der Ort hieß Tankow. Er lag mitten im Gelände, das sehr flach war. Ich schätzte, dass wir noch eine halbe Stunde fahren mussten, um ans Ziel zu kommen.
Auch die Umgebung veränderte
Weitere Kostenlose Bücher