Armeen Der Nacht
von der Straße, allerdings jetzt ein bißchen fett und völlig verängstigt.
»Moria!« Haughts Stimme war kühl, doch eine Sinnlichkeit schwang aus ihr, die sie erschauern ließ. In ihrer Bestürzung blieb sie plötzlich stehen, und er faßte sie an den Schultern, hier in diesem vornehmen Haus, das Ischade gehörte, so wie sie alle Ischade gehörten. Niemand hatte ihn eingelassen. Er öffnete jegliche Tür, wie es ihm gefiel.
»Mein Bruder ist weg«, sagte sie. »Er ist ... spurlos verschwunden!«
»Nein«, entgegnete Haught. »»Sie weiß, wo er ist. Vis und ich haben ihn gefunden. Er erledigt einen kleinen Auftrag. Nun hat sie einen für dich.«
Ihre Lippen begannen zu zittern. Zunächst aus purer Angst um Moram, ihren Bruder, der halbverrückt und an Ischade gebunden war wie sie; und dann um sich selbst, denn sie wußte, daß sie in einer Falle saß, aus der sie nie wieder herausfand. Ischade hatte ihnen dieses feine Haus überlassen und kam, um sich kleine Stückchen ihrer Seelen zu holen, wann immer sie einen Auftrag für sie hatte.
»Was für einen Auftrag?« fragte sie. Haught hob die Hände zu ihrem Gesicht und strich sanft wie ein Liebster ihr zersaustes Haar zurück. »Was für einen Auftrag?« Noch stärker zitterten ihre Lippen.
Er beugte sich über sie und küßte sie ganz leicht. Die Berührung war sowohl zärtlich wie eisig. Er blickte tief in ihre Augen.
War es möglich — Moria stand wie gebannt —, daß Haught sie noch liebte? Doch das war ein törichter Gedanke. Sie brauchte sich bloß zu besinnen, was sie war, was aus ihr geworden war, um selbst die Antwort zu kennen. Sie faßte sich und stieß sich mit beiden Händen von ihm ab. Ihr Morgenrock sprang auf, doch es scherte sie nicht, sie war ja nur die kleine, von zu viel Wein aufgeschwemmte Frau, die ihre Möglichkeiten vertan hatte.
»Wo ist er? Wo ist mein Bruder?«
»Oh, auf der Straße. Er sieht sich dort um, wo es ihm möglich ist.« Haught langte in sein Hemd und zog etwas hervor, das nicht von der unteren Stadt sein konnte. »Da!« Die rote Rose sah ein bißchen zerdrückt aus, doch schon begann sie taufeucht zu glitzern und war wie frisch vom Strauch. »Ich habe sie für dich gepflückt.«
»Aus ihrem Garten?«
»Die Büsche können blühen — selbst im Winter, mit ein bißchen Ansporn. Es kümmert sie nicht. Nur wenig kümmert sie. Auch du könntest erblühen, Moria. Du brauchtest bloß ein wenig Pflege.«
»Ihr Götter ...« Ihre Zähne schlugen aufeinander. Sie schüttelte ein bißchen Verstand in ihren Kopf zurück und blickte zu ihm auf: zu dem Mann, den sie einst gekannt hatte, doch jetzt nicht mehr kannte; zu dem Mann mit der gepflegten Sprache und dem fremden Akzent. Sie hielt die Rose fest in der Hand; ein Dorn bohrte sich in ihren Zeigefinger. »Hol mich hier heraus, Haught, bitte!«
»Das geht nicht, Moria.« Seine Hände hielten ihr Gesicht und strichen ihr Haar zurück. »Schau, du kannst schön sein.« Ihr Gesicht fühlte sich frischer an und war unter seinen Händen kühl wie die Winterrose. »Du kannst es! Du kannst alles sein, was du sein möchtest. Dein Bruder hat seinen Nutzen, aber er ist schwach. Das warst du nie. Er ist ein Narr. Du warst nie eine Närrin.«
»Wenn ich so klug bin, weshalb bin ich dann hier? Weshalb bin ich dann in diesem Haus voll Gold gefangen, das ich nicht stehlen kann? Weshalb nehme ich Befehle entgegen von einer ...«
Sein Finger legte sich auf ihre Lippen, doch ihre Klugheit hatte sie selbst veranlaßt, nicht weiterzusprechen. Sie bemerkte den Schatten in seinen Augen, der ständig auswich, in die Zuflucht eines Sklaven huschte — er hatte diese offensichtliche Scheu für verstohlene Zwecke genutzt, vielleicht immer schon.
»Sie zieht die Schulden ein«, sagte sie. »Nicht wahr?«
»Vertrau mir«, antwortete Haught. Seine Finger wanderten ihre Wange hinab zur Kehle. »Es gibt wenige Frauen, die mich anziehen. Ihr Bett teile ich ganz gewiß nicht. Ja, sie zieht die Schulden ein. Und wenn die Welt sich verändert, wirst du Satin tragen und von goldenen Tellern essen ...«
»Ihr Götter! Shalpa und Ils...«
Die Stimme veränderte sich in ihrer Kehle, verlor ihre Rauhheit, betrog sie. Sie hielt inne und fluchte. »Meine Götter!« (Aber es kam rein und klar heraus.)
»Meine Rose hat deine Hand verletzt.« Haught hob ihre Finger an seine Lippen und küßte sie. Und Moria, die sich mit dem Dolch in der Hand Straßenbanden gestellt und mit dem Messer mehr als einem Abwinder
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