Armegeddon Rock
und die Stämme sammelten sich, dachte Sandy, und so war es. Jede Nacht sah er, wie die Menschenmengen anschwollen und brodelten und sich veränderten. Sie kamen im mittleren Alter und an den Rändern ein bißchen ausgefasert herein, kamen in maßgeschneiderten Jeans und mit Schmuck, hergelockt von ihren Erinnerungen, von den Echos der Songs, nach denen sie marschiert waren, gevögelt hatten, Acid eingeworfen hatten, bei denen sie mitgesungen und an die sie in den Sechzigern geglaubt hatten. Sie gingen irgendwie jünger hinaus, von einer Energie erfüllt, die fast greifbar war, von einer knisternden Kraft; sie gingen lächelnd und pfeifend, hielten wieder Händchen wie Kinder, und sehr oft wirkten die Jeans hinterher ausgeblichen, billig und abgetragen und fleckig, mit aufgebügelten Blumenflicken und Friedenszeichen, um die Löcher zu überdecken. In Minneapolis (oder war es St. Louis?) zählte er zwanzig Stirnbänder, fünf gefärbte T-Shirts, eine Omabrille. Das Konzert dauerte Stunden, aber konnte menschliches Haar wirklich so schnell lang wachsen? Wieso wirkten dann die Haare der Frauen so lang und sauber und glatt, wenn sie herauskamen, wieso flossen sie so weit, weit herab und bewegten sich leicht im Wind, wenn sie beim Hereinkommen so zottig und gestylt und gelockt gewirkt hatten?
Unterwegs schien alles möglich, und alles war wirklich. In St. Louis dachte Sandy, er hätte ein Gesicht wiedererkannt, das er in Pittsburgh ganz vorn gesehen hatte. In Houston war er sich sicher, bei diesem Gesicht und bei einem Dutzend weiteren. Sie folgten der Band; die dickliche Frau, die sich immer bis auf die Haut auszog und selbst zu den schnellsten Songs langsam und mit geschlossenen Augen tanzte, und der hochgewachsene, sehnige, spitzbärtige Typ, dem immer ein Joint von den Lippen baumelte, die Motorradfahrer, der altmodische Hippiehaufen, der Kerl, der so haarig wie ein Werwolf war, aber einen dreiteiligen violetten Anzug aus der Zeit König Eduards trug, die schwüle, dunkeläugige Superfrau mit dem silberblonden Haar. Nacht für Nacht, Stadt für Stadt. In Kansas City hätte er schwören können, daß er Lark da draußen in der Menge gesehen hatte, wie er seine Faust in die Luft stieß und mit all den anderen »He’s coming!« brüllte, ein gewaltiges Brausen der Prophezeiung und des Versprechens. Unterwegs kommen einem alle Gesichter bekannt vor.
Kansas City war Houston war St. Louis, und sie lebten und reisten und bewegten sich in ihrer eigenen verlorenen Welt, im Auge eines Rock ’n’ Roll-Hurrikans, inmitten sich zusammenballender Kraft. Um St. Louis herum waren sie wieder überall im Land in den Nachrichten, die durchwachsenen Kritiken aus Chicago waren jetzt vergessen. Dan Rather sprach in den CBS-Evening News über die Nazgûl, Time lieferte endlich den Titel, den sie Monate zuvor versprochen hatten, Hedgehog brachte einen zweiten Titel, viel besser als den ersten, um einen zwanzigseitigen Artikel mit der Überschrift »Der Unmögliche Comeback-Flug« groß herauszustellen, obwohl Sandy keinen von Jareds Anrufen je erwiderte. Zwei Zugaben in Minneapolis (oder war es St. Louis?), und in Houston wollte die Menge sie nicht von der Bühne lassen, und Hobbins tanzte und sang wie ein Besessener (was sonst?) und hetzte sie weiter und weiter, und das Material ging ihnen aus, und sie spielten trotzdem weiter, spielten »What Rough Beast« mit einer endlosen Improvisation in der Mitte, bis das »He’s coming!«-Geschrei die Polizei mit heulenden Sirenen auf den Plan rief, um der Show ein Ende zu machen. Es gab Gebrüll, Flüche, Steinwürfe und Festnahmen, und zwei Tränengasbomben wurden geworfen, um die Menge zu zerstreuen. Die Nazgûl spielten während alledem weiter, und als die Cops von Houston schließlich Gummiknüppel zogen und eine Kampflinie formierten, griff die Menge an und überwältigte sie, während die Nazgûl »Ragin’!« anstimmten.
Und die Nazgûl breiteten ihre dunklen Schwingen über das Land, und die Freien sammelten sich und erhoben ihre alten Banner voller Liebe und Freude und gerechtem Zorn, schrieb Sandy in dem Statement, das er nach dem »Polizeiaufstand« von Houston an die Medien herausgab. Aber er überlegte es sich noch einmal und strich es vor der Veröffentlichung durch. Man konnte bereits sehen, wie die Polarisierung begann. Einige texanische Politiker wollten die Band wegen Anstiftung zum Aufruhr unter Anklage gestellt haben, in Kansas City und Denver und Albuquerque wurde dafür
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