Arminius
sah die ungeheure Gefahr, in der das unschuldige Dorf schwebte. Vor seinem inneren Auge erstand der Schrecken des römischen Überfalls auf sein Zuhause, den er als Kind miterlebt hatte. Er dachte an die Heimat, an sein Gehöft, an cheruskische Siedlungen, an die tatkräftigen Frauen, die spielenden Kinder … nein, er konnte das nicht zulassen!
Entschlossen, seine Leute aufzuhalten, ergriff er den Adler – und spürte nur noch eine große grauschwarze Dumpfheit, in der er versank. Als er wieder zu sich kam, dröhnte sein Schädel, schmerzten Kiefer und Jochbein, schnitt etwas in seine Arme. Er fand sich an einen Baum gefesselt wieder.
»Was hattest du vor? Die Tiere da aufhalten?«, fragte ihn Germanicus. »Sie hätten dich erschlagen. Du weißt es doch. Die Standhaftigkeit dieser Männer hat den Legionen das Leben gerettet. Und es sind wahrlich viele gefallen. Sie haben den ganzen Tag gegen ihre Angst und gegen den Tod gekämpft. Und viele Kameraden sterben sehen, von Feinden getötet, oder sie haben die anderen massakriert. Jetzt sind sie Bestien. Wir können nichts weiter tun, als sie von der Kette zu lassen. Ihr Blut brennt in den Adern, sie müssen es abkühlen. Vorher ist mit ihnen nichts anzufangen!«
Arminius sah zu dem Dorf hinüber, dem sich Mord, Drangsal, Vergewaltigung und Feuer näherten. Er sah Elda vor sich, wie sie damals am Bach vor ihm gestanden hatte. Er zerrte an seinen Fesseln, die ihm so tief ins Fleisch schnitten, dass ihm fast übel wurde. Er zerrte weiter, immer weiter, bis sich seiner Kehle ein unmenschliches Brüllen entrang, die Stimme des nackten Schmerzes.
Und plötzlich verwandelte sich die Landschaft, wurde aus der Nacht Tag und aus dem Hochgebirge ein liebliches Tal zwischen Hügeln, das ein Bach durchfloss. Zornig stampfte das Mädchen mit dem Fuß auf.
»Nein, nein, nein! Du bist der Römer, und ich bin der Cherusker!«
So klar und blau wie der grenzenlose Himmel blickten Ergimer die Augen der achtjährigen Tochter des Fürsten Segestes an.
*
Der neue Tag brachte die Wende im Aufstand der Breuker. Batos Ruf, unbesiegbar zu sein, war dahin, er hatte viele Kämpfer verloren. Die Truppen des Tiberius waren durch die Legionen, die Marcus Plautius Silvanus aus der Asia heranführte, und die des Germanicus, die er in Italien versammelt hatte, verstärkt worden.
Die Legionäre aber, die dem Ansturm der Breuker im Tal standgehalten hatten, erhielten Beförderungen, Auszeichnungen und Geld. Julius Caesar Arminius wurde als erster Germane für seine Verdienste durch Augustus zum römischen Ritter geadelt.
Von dem Dorf in der Talsenke blieben nur verkohlte Steine und Knochen. Von dieser Nacht des Massakers sprach niemand mehr. Auch Arminius nicht.
Teil III:
F ÜRST DER G ERMANEN –
K ÖNIG DER K RIEGER
23
Seit Tagen regnete es junge Hunde, und die Welt ertrank in zutiefst deprimierenden Grautönen. Nass bis auf die Knochen stand Arminius wie angewurzelt am Bug des Schiffes, das den Rhenus abwärts in Richtung seiner Heimat fuhr. Klug war es sicher nicht, sich den kalten Wassern des Himmels auszusetzen, doch er konnte einfach nicht genug bekommen von dem kräftigen heimischen Regen. Sonderbar, dachte er, als er vor vielen Wintern verschleppt worden war, hatte es auch in Strömen gegossen. Natürlich wusste er, wie absurd die Vorstellung war, dass der Regen seit damals nie aufgehört und nur auf seine, Arminius’, Rückkehr gewartet hatte, aber in diesem Moment drängte sich ihm der Gedanke geradezu auf.
»Als ob man in den Wasserfällen von Tibur steht. Empfängt man so den neuen Statthalter?«, hörte er hinter sich Quinctilius Varus, einen untersetzten Mann, der die Fünfzig bereits überschritten hatte, schimpfen. Auf den ersten Blick wirkte sein gepflegtes, breites Gesicht durchaus vergnüglich und umgänglich, doch hinterließen seine kleinen Bärenaugen beim aufmerksamen Betrachter ein ungutes Gefühl. Böse Zungen behaupteten, der ehemalige Statthalter Syriens habe arm das reiche Land betreten und reich die arme Provinz wieder verlassen.
»Die Götter der Barbaren weinen vor Freude, dass du den Barbaren die Kultur bringst«, beeilte sich einer von Varus’ Lakaien zu schmeicheln.
»Unser junger Held will offenbar seine Freudentränen für sich ganz allein genießen«, mutmaßte der Angesprochene, den das Zeltdach in der Mitte des Schiffes vor Nässe schützte. Prüfend blickte er zunächst zum Himmel, danach auf den Fluss, zumindest auf das, was er durch den
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