Arrivederci amore, ciao
Bereichen boten mir ihre Freundschaft an. Früher, da wäre ein Abtrünniger, der zudem noch im Verdacht steht, für die Bullen zu spionieren, abgestochen worden, sobald er die Nase aus der Zelle gesteckt hätte, aber auch der Knast war nicht mehr das, was er mal gewesen war.
Die Mühlen der Gerechtigkeit fingen an zu mahlen. Langsam, aber stetig. Der Oberste Gerichtshof entschied auf Wiederaufnahme und übergab den Fall an das Berufungsgericht von Mailand. Während des Prozesses vermied Giuseppe sorgfältig, mir ins Gesicht zu sehen. Mein Anwalt erklärte dem Gericht in seinem Plädoyer, dieses Verhalten liege daran, dass er sich schäme, weil er mich zu einem heimatlosen Vagabundendasein gezwungen habe. Ein Blinder hätte gesehen, dass es die reine Verachtung war. Aber auch in den Gerichtssälen waren die siebziger Jahre Vergangenheit. Die Urteilsfindung nahm nicht mehr als ein paar Stunden in Anspruch, nur so lange, bis das Strafmaß bestimmt war. Ich wurde freigesprochen. Noch ein paar Monate Knast wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung, und dann sollte der Albtraum endlich vorbei sein, der vor vielen Jahren begonnen hatte, als Sergio mich in eine Bar am Stadtrand bestellt und mir vorgeschlagen hatte, mich der Organisation anzuschließen. Als Kommunist und Untergrundkämpfer.
Eines Morgens sagten sie, ich solle Matratze, Laken und Blechgeschirr im Magazin abliefern. Ich war gerade achtunddreißig geworden. Am Ausgang erwartete mich Anedda.
»Vergiss nicht, du gehörst der Spezialeinheit von Mailand«, sagte er laut.
»Ich bin in Rente«, entgegnete ich verärgert.
Er stieß mich brutal gegen die Wand. »Du hast mir jede Menge zu verdanken, und vergiss nicht, dass ein anderer für dich im Gefängnis sitzt.«
Ich befreite mich aus seiner Umklammerung und ging davon, dicht an der Gefängnismauer entlang. Ich beobachtete die Freiheit auf der anderen Straßenseite, war aber noch nicht bereit, sie in Besitz zu nehmen. Dann, unterm Wachturm angelangt, überquerte ich die Straße.
Flora
Das Heimweh nach dem Dorf, aus dem ich stamme, und dem sorglosen Leben von einst war zu einer Kindheitserinnerung erstarrt. Wenn meine Großeltern väterlicherseits, die unmittelbar außerhalb Bergamos wohnten, uns besuchten, brachten sie mir und meinen Schwestern immer eine Schachtel »Otello Dufour« mit. Die besten Bonbons der Welt. Ich schnappte mir eine Handvoll dieser Köstlichkeiten und verkroch mich mit einem Abenteuerroman von Emilio Salgari in meinem Zimmer oder im Garten, wickelte einen Bonbon nach dem anderen aus, legte ihn mir behutsam auf die Zunge, ließ ihn langsam zergehen. Immer mündeten die innigsten und herzzerreißendsten Erinnerungen während der Jahre meiner Flucht und im Gefängnis in dem Bedürfnis nach einem dieser Schokoladenbonbons mit Likörfüllung. Wer einsitzt, muss unablässig daran denken, was er in Freiheit als Erstes tun wird. Meine Sehnsucht trug den Markennamen Dufour. Ich betrat die erste Konditorei und kaufte eine ganze Schachtel. Aber schon, als ich sie öffnete, war mir klar, dass da etwas nicht stimmte. Die Pralinen waren oval statt rund, die Oberfläche bestand nicht mehr aus glatter, geheimnisvoll dunkler Schokolade, sondern war heller und mit Haselnussstückchen gesprenkelt. Ich steckte sie in den Mund und musste feststellen, dass sie überhaupt nichts mehr mit den Otellos von früher gemein hatten. Ich fühlte mich betrogen und hätte am liebsten losgeheult. Jahrelang hatte ich von etwas geträumt, das es nicht mehr gab. Ich ging in den Laden zurück, und die Inhaberin bestätigte mir, dass Otello jetzt der Name für eine Art gefüllter Haselnusspralines war.
»So was essen die Leute heutzutage eben lieber.« Sie zuckte mit den Schultern.
Ich warf die Schachtel in einen Mülleimer. Ich war enttäuscht und besorgt. Wenn ich beim ersten Wunsch, den ich mir nach der Zeit im Gefängnis erfüllte, derart reingelegt wurde, dachte ich, dürfte mein künftiges Leben nicht gerade ein Spaziergang werden.
Auch Mailand hatte sich verändert. Die Stadt wimmelte von halbverhungerten Ausländern, die das reiche Europa belagerten. Ich war exakt in derselben Lage. Ich war allein, und nach all den Jahren kam es mir vor, als würde ich Italien noch weniger kennen als sie. Ich suchte in einem Kloster Zuflucht, das Exhäftlingen Beistand leistete. Dort sprach ich lange mit einem Priester, einem hartherzigen Mönch vom Orden der Mercedarier, der schon zu lange in den
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