Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Artefakt

Artefakt

Titel: Artefakt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Brandhorst
Vom Netzwerk:
Blutsauger aussah und vermutlich mit dem schmutzigen Wasser hereingekommen war. Er nahm das kleine, braune Geschöpf zwischen Dau men, Zeige- und Mittelfinger, zerquetschte es und warf die Reste nach draußen.
    Rahil dachte an Emily und konnte sich nicht gegen die Vorstellung wehren, dass sie wie der kleine Blutsauger von den Fingern seines Vaters langsam zerquetscht worden war.
    36
    »Es ist eine Superschmiede, mein Sohn«, sagte Coltan Jaqiello. »Das Artefakt ist eine Superschmiede, die alles produziert, was man sich wünscht. Alles! Weißt du, was das bedeutet?«
    Sammaccan lag zusammengesunken in der Ecke des Führerhauses, halb Mensch und halb Reptil, umschlungen von mehreren dünnen Tentakeln, die ihm vor einer Stunde gewachsen waren, als die langsam fahrende Lokomotive die Seen des überfluteten Sumpflands hinter sich zurückgelassen hatte. Rahil beobachtete ihn und fragte sich, ob er ihn wecken sollte, entschied sich aber dagegen. Erneut kontrollierte er die Anzeigen, stellte fest, dass der Druck im Kessel gesunken war, öffnete die Klappe und griff nach der Schaufel.
    »Hast du gehört, Sohn?« Coltan saß im Tender und rückte zur Seite, als Rahil Kohle und Dung schaufelte. »Das Artefakt ist eine Superschmiede. Es könnte uns jeden Wunsch erfüllen.«
    Uns, dachte Rahil und gab Brennstoff in den Ofen der Lokomotive. Wen meinst du mit uns ?
    »Die Emily, an die du dich nicht erinnerst, Vater … Ich glaube, ich habe sie geliebt. Ja, ich glaube, sie war die erste Liebe meines Lebens.«
    »Was?«
    Rahil kontrollierte die Stellung der Hebel – alles in Ordnung, soweit er das beurteilen konnte –, beugte sich dann aus dem Fenster und sah nach vorn. Die Landschaft wurde hügeliger, die Konturen des vor ihnen liegenden Gebirges deutlicher. Der Himmel über ihnen blieb grau und im Süden dunkel. Dort tobte der Sturm, und Rahil fragte sich kurz, was aus Lonora und den vielen Flüchtlingen geworden sein mochte, die sich von den Staubschiffen Rettung erhofft hatten.
    »Meine erste Liebe«, wiederholte Rahil und sah Emily vor dem inneren Auge, mit ihren Sommersprossen und dem sanften Lächeln. In den ersten Jahren nach Jazmines Tod hatte er Emily in seinen Erinnerungsbildern manchmal mit langem schwarzem Haar gesehen, zu einem Zopf geflochten, nach dem sie mit der einen Hand griff, als wollte sie sich daran festhalten. Aber jene Phase, in der die Erinnerungen an Emily mit denen an seine Schwester verschmolzen, war längst vorbei, und als reifer Erwachsener wusste er die Gefühle des Jungen besser zu deuten. Für einige wenige Wochen war Emily damals nicht nur eine Art Ersatzmutter für ihn gewesen, sondern auch Fokus für seine ersten pubertären Träume. Das Leben schien schöner gewesen zu sein, weil es sie gab, und auch das, was sie repräsentierte.
    »Hast du nicht gesagt, dass du damals erst zehn oder elf warst?«
    »Ja.«
    »Ein zehnjähriger Knabe kann keine Frau lieben, das ist absurd«, sagte Coltan.
    Rahil musterte seinen Vater, und vielleicht sah er ihn, jetzt mit den Augen des Erwachsenen, zum ersten Mal so, wie er wirklich war: nicht nur arrogant, sondern auch dumm und arm in Seele und Herz. Ein Mann, der irgendwann zu einem emotionalen Krüppel geworden war und mit seinem Streben nach Macht vielleicht zu kompensieren versuchte, was ihm fehlte. Der Blutsauger fiel ihm ein, das kleine Geschöpf, braun wie das schmutzige Wasser, das es ins Führerhaus der Lokomotive gespült hatte. Es wäre nicht nötig gewesen, das kleine Wesen zu zerquetschen; Coltan hätte sich damit begnügen können, es einfach nur von seiner Hand zu lösen und hinauszuwerfen.
    »Was hast du damals mit ihr gemacht?«, fragte Rahil. »Mit Emily.«
    »Was soll ich mit ihr gemacht haben?«
    »Ruben und Darel haben sie in deinem Auftrag fortgebracht«, sagte Rahil. »Jaz und ich haben sie nie wiedergesehen.«
    »Mein Sohn, ich erinnere mich nicht einmal an sie«, erwiderte Coltan.
    Das stimmte vielleicht. Wie viele Erinnerungen an sein früheres Leben hatte sich das Oberhaupt der Tennerits und inzwischen auch des Dutzends bewahrt? Wie oft war er gestorben? Wie oft hatte ihm der Uterus seines Helfers neues Leben verliehen? Von welcher Qualität waren die zuvor angefertigten Images gewesen?
    »Ich habe von der Superschmiede gesprochen …«, sagte Coltan.
    »Und ich habe dich gehört.«
    »Sonst hast du nichts dazu zu sagen?«
    »Was erwartest du von mir?«
    Coltan winkte, eine Geste, die dem ganzen Planeten galt. »Du hast all die Jahre

Weitere Kostenlose Bücher