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Artefakt

Artefakt

Titel: Artefakt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Brandhorst
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brummte Coltan von der anderen Seite. »Es ist nicht unbedingt so, dass wir jede Menge Zeit hätten. Ich bin dafür, dass wir es hier versuchen.«
    »Die Brücke könnte jeden Moment einstürzen«, sagte Rahil. »Sie besteht nicht aus Synthmetall oder Polymeren, die fast unbegrenzt belastbar sind. Die Pfeiler sind aus Stein und könnten einfach weggespült werden. Es wundert mich, dass die Brücke überhaupt noch steht.«
    »Heute Mittag könnten wir in Lautaret sein«, sagte sein Vater. »Bei Äguizabel, dem Verwahrer. Er verwahrt viele Dinge, vielleicht auch … deine Erinnerungen?«
    Rahil richtete einen scharfen Blick auf seinen Vater. »Woher weißt du das?«
    »Oh, ich weiß es nicht. Ich vermute es nur.«
    Sammaccan bediente bereits mehrere Hebel, und die Lokomotive zischte lauter und länger. Die eisernen Räder knirschten über die Gleise, als die Lok vom reißenden Fluss und der Brücke zurückwich, die jeden Augenblick fortgerissen werden konnte.
    Ich bin Exekutor der Ägide, aber diesmal kann ich nicht auf Wiedergeburt hoffen, dachte Rahil. Wenn ich hier sterbe, bleibe ich tot.
    Hebel klickten, schwarze Zeiger in runden Instrumenten zitterten, und das Schnaufen der Lok hörte kurz auf, als Sammaccan ein ganzes Stück vom Fluss entfernt anhielt. Dann zog er den Fahrthebel ganz nach unten, und das rhythmische Zischen und Fauchen begann erneut und wurde schnell lauter.
    »Haltet euch gut fest!«, rief Sammaccan.
    Als wenn uns das helfen könnte, fuhr es Rahil durch den Sinn. Wenn die Brücke einstürzte, fielen sie zusammen mit der Lokomotive ohne eine Überlebenschance in die tosenden braunen Fluten. Einige Sekunden lang beobachtete er seinen Vater, der auf der anderen Seite des Führerhauses am Fenster stand und das Geschehen wie fasziniert beobachtete. Angst schien er nicht zu haben. Er wirkte höchstens ein wenig besorgt, und Rahil war nicht einmal sicher, ob die Sorge dem eigenen Überleben galt oder sich auf das bezog, was ihn nach Heraklon gebracht hatte – er schien mehr um den Erfolg seiner Mission zu bangen als um das eigene Leben.
    Rahil beugte sich halb durch die offene Tür und sah nach vorn.
    Jenseits des Flusses ragten die steilen Wände des Krusor-Gebirges auf, das sich über fast dreitausend Kilometer von Westen nach Osten erstreckte. Seine höchsten Gipfel ragten nicht bis in die Stratosphäre wie die des Walls nordöstlich des Tieflands Cimeno, aber sie waren hoch genug, um selbst in den Tropen unter normalen klimatischen Bedingungen weiße Gewänder aus ewigem Schnee und Eis zu tragen. Jetzt waren sogar die Vorberge verschneit, deren Hänge einige Kilometer hinter dem Outzen begannen.
    Der Fluss …
    … war ein donnerndes braunes Ungeheuer, und die Lokomotive raste ihm entgegen, seinem Brodeln und Brausen, den schaumlosen, schmutzigen Wellen, die an der Brücke zerrten. Rahil hörte ihr Gurgeln und Schmatzen, obwohl die Lokomotive wie ein wildes Tier schnaubte und fauchte und das Donnern des Flusses versuchte, alle anderen Geräusche zu übertönen. Und dann war der Fluss zum Greifen nahe, direkt unter den Gleisen, spritzte manchmal über sie hinweg, als wollte er nach der Lokomotive greifen, die mit fünfzig oder sechzig Stundenkilometern über die Brücke keuchte und schneller wurde.
    »Wir schaffen es!«, rief Sammaccan, öffnete die Klappe und schaufelte Kohle ins Feuer. »Wir schaffen es!«
    Er rief es immer wieder, bis das Donnern des Flusses so laut wurde, dass der Interpreter seine Worte nicht mehr von den anderen Geräuschen trennen konnte und schwieg.
    Die Welt bestand nur noch aus Schienen, einem Geländer aus eisernen Verstrebungen und einem Fluss, der mit solcher Kraft an den Brückenpfeilern zerrte, dass Rahil ein Zittern und Beben zu spüren glaubte, bis er merkte, dass seine weichen Knie die Ursache dafür waren.
    Etwa in der Mitte der Brücke schaukelte die Lok einmal, als überlegte sie, ob sie von ganz allein in den Fluss springen sollte. Rahil klammerte sich an einer Stange fest, und für ein oder zwei Sekunden war er so erschrocken, dass er die einzelnen Flocken des vom Metall abblätternden blaugrünen Lacks in allen Einzelheiten sah, wie bei einer plötzlichen Erweiterung seiner Sinne.
    Auf der anderen Seite des Führerhauses rief Coltan etwas und deutete nach draußen. Sammaccan achtete nicht auf ihn und schaufelte Kohle, ohne zu schwitzen, aber Rahil reckte den Hals und sah durchs Fenster einen besonders großen Baumstamm, der auf die Mitte der Brücke

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