Artefakt
Bewusstsein über die Grenzen gewöhnlicher Erkenntnisfähigkeit hinausschob. Hatten die Exklusiven hier, in ihrem eigenen Kosmos, eine neue Art von Kosmischer Enzyklopädie geschaffen, einen Sphärengesang, der nicht nur ihr Wissen enthielt, sondern auch sie selbst?
In einem Moment atemberaubender geistiger Klarheit glaubte Rahil, die profunden Bedeutungstiefen in Anordnung, Bewegung, Leuchtkraft und Strahlungsmustern der neunhundertneunundneunzig Sonnen zu erkennen, und er begriff: Die Exklusiven hatten ihr Werk nicht unvollendet zurückgelassen, als sie verschwanden. In ihrem Universum hatte es nie Galaxien, Galaxienhaufen und dunkle Materie geben sollen. Von Anfang an war ein weitgehend statischer Kosmos geplant gewesen, mit nicht mehr als tausend Sternen minus einem. Jene Fremden, einst Teil der Hohen Mächte, hatten sich ein Denkmal gesetzt, das gleichzeitig eine Botschaft an die Welt und die Welten nach ihnen war. Eine Botschaft so komplex und gut verschlüsselt, dass nicht einmal die Krion, Leskovar, Gesserat und all die anderen Hohen Völker sie verstanden.
»Rahil?«, fragte Duxbery auf der anderen Seite des Tisches. »Ist alles in Ordnung mit Ihnen?«
Oder wussten die Hohen Mächte, was es mit der Hinterlassenschaft der Exklusiven auf sich hatte? So sehr Rahil ihn auch festzuhalten versuchte, der Moment der Klarheit ging zu Ende.
»Warum haben sie uns ausgerechnet hier empfangen?«, fragte er in die Stille des Salons. »Was glauben Sie?«
Der greise Duxbery seufzte tief und schwer. »Um ganz ehrlich zu sein … Ich weiß es nicht.«
»Um uns zu beeindrucken?«, erwiderte Cuaresma. Klein, hager und ernst saß er in einem Sessel, der für ihn viel zu groß zu sein schien. »Um uns zu sagen: So groß sind wir, und so klein seid ihr?«
Rahil deutete auf den Sternhaufen im holografischen Darstellungsbereich über dem Tisch. »Ich glaube, die Anordnung dieser Sonnen und ihre energetischen Wechselwirkungen codieren eine Botschaft, die ebenso komplex ist wie der Code der Kosmischen Enzyklopädie. Und ich glaube, die Hohen Mächte lassen uns, indem sie uns diesen Kosmos zeigen, ihrerseits eine Botschaft zukommen.«
»Interessant«, kommentierte Cuaresma nach kurzem Nachdenken. Er griff nach einem Glas, das violette Flüssigkeit enthielt, trank einen Schluck und setzte es wieder ab. »Und wie lautet die Botschaft, Missionar?«
»Wie kann ich das wissen?«, antwortete Rahil. »Ich bin nur ein Mensch.«
Neue Stille dehnte sich aus – im von den Formspeichern geschaffenen Salon hörte man nicht einmal das leise Summen der Shifter-Variatoren. Unter anderen Umständen hätte sich Rahil in sein eigenes Quartier zurückgezogen und die Maint gebeten, ihn mit dem Lied der Kosmischen Enzyklopädie zu verbinden. Es gab ihm Ruhe. Es lenkte ihn von anderen Gedanken ab, die immer wieder in ihm aufstiegen, oft begleitet von Bildern, die ihm ein Mädchen mit langem schwarzen Haar zeigten, zu einem Zopf geflochten. Es gab ihm das Gefühl, alles hinter sich lassen und jeden Ballast abstreifen zu können. Ich bin süchtig, dachte er in dem Schweigen, das zwei Männer mit ihm teilten. Auch darüber sollte ich mit Lynton Hongeva Ayyad reden. Aber dann schlägt er vielleicht eine Therapie vor, um mich von der Sucht zu befreien. Aber will ich wirklich davon befreit werden?
* * *
»Dies alles ist nicht wichtig, mein Junge. Es ist nicht wichtig. Nimm die Erinnerungen in dich auf, aber verweile nicht bei unbedeutenden Einzelheiten.«
* * *
Was ist wichtig und was nicht?, dachte er und beobachtete die neunhundertneunundneunzig Sonnen. Vielleicht hatten die Exklusiven eine Antwort darauf gefunden. Vielleicht war es ihnen gelungen, das Wichtige vom Unwichtigen zu trennen und sich wahrer Bedeutung zu widmen.
Der Gedanke erschien ihm unsinnig, und er schaute argwöhnisch auf sein Glas, das ebenfalls violette Flüssigkeit enthielt. Gab es darin Substanzen, die berauschend wirken konnten? Selbst wenn das der Fall war: Seine Femtomaschinen hätten die entsprechenden Moleküle herausgefiltert und neutralisiert.
»Es lässt sich nicht vermeiden, dass die Gefallenen Welten vom Artfakt auf Heraklon erfahren«, sagte Cuaresma nach einer Weile. »Und wenn das geschieht, befürchte ich das Schlimmste.«
Duxbery seufzte erneut. »Es ist bereits geschehen. Bousqute und Principato haben offizielle Anfragen an die Ägide gerichtet. Man wirft uns Geheimniskrämerei vor. Von Burion und Larralde melden unsere Gesandten militärische
Weitere Kostenlose Bücher