Artefakt
mehrere Dutzend Meter hohen Wand brodelten und donnerten, halb in der Nacht verborgen, gewaltige Wassermassen, gespeist von den Regenfluten aus den vielen Strömungskanälen. Auch diesseits der Barriere gab es breite Rinnen, durch die Regenwasser in tiefe Auffangbecken am Rand der Ruinenstadt weiter im Süden floss, und von dort aus wurde es nach Westen geleitet, in ein anderes Tal, wo es sich mit den graubraunen Fluten jenseits der Polymer-Synthmetall-Wand vereinte. Ohne die Barriere wäre das Lager der Archäologen einfach weggespült worden. Nicht so die Stadt der Ausgestorbenen, die während der letzten Jahrtausende vom Wasser aus dem Felsgestein gewaschen worden war. Ihre Gebäude bestanden aus einem keramikartigen Material, das hohem Druck ebenso standhalten konnte wie extremen Temperaturschwankungen. Dass in den meisten Fällen nur noch Ruinen von ihnen übrig waren, lag nicht am Wasser.
»Als uns vor sieben Stunden Lucrezias Tod gemeldet wurde …«, sagte Durrwachter. »Wir konnten es nicht fassen. Und als uns dann die Maint mitteilte, dass kurz nach Lucrezias Ermordung zwei Personen das Habitat mit einer der alten Wartungskapseln verlassen hatten und zum Orbitallift geflogen waren …«
Ein Blitz flackerte über den Himmel und machte für einen Sekundenbruchteil die Nacht zum Tag. Sammaccan zuckte heftig zusammen und sah besorgt zur Barriere im Norden, die all das Wasser staute und rechts und links am Lager vorbeiströmen ließ. Das Licht der mobilen Lampe über ihnen erreichte seine Augen, und Rahil bemerkte, dass sie sich verändert hatten und jetzt aus vielen einzelnen Facetten bestanden.
»Ihr habt die Insassen des Inspektionsmoduls für die Täter gehalten«, sagte Rahil und beschäftigte sich in Gedanken bereits mit dem Frachtfraktal. Der Transit wurde bestimmt nicht leicht. »Ein Ascar hatte es auf mich abgesehen.«
Durrwachter blieb stehen. »Ein Ascar ?«
»Ja, vom Dutzend ausgeschickt. So hat es mir der Kurator mitgeteilt, von dem ich meinen aktuellen Auftrag bekommen habe.«
»Holt dich deine Vergangenheit ein?« Durrwachter ging weiter und führte seine beiden Begleiter an einem langen Gebäude vorbei, dessen Fenster dunkel waren. Das überstehende Dach bot etwas Schutz vor dem Regen.
»Vielleicht. Wo befindet sich das Kickout?«, fragte Rahil.
Durrwachter streckte die Hand aus und deutete durch die stürmische Nacht nach Südwesten. »Dort drüben, beim alten Lager. Es sind nur ein paar Hundert Meter. Du hast es ziemlich eilig, wie?«
»Ja.«
Sie stapften weiter durch den Regen, vorbei an überquellenden Pfützen, deren Wasser auch die Polymer-Wege erreichte.
»Lucrezia wäre in einigen Jahren gestorben.«
»Ich weiß. Wir haben darüber gesprochen.« Rahil sah sich immer wieder um und hielt auch mit den Sensoren der Rüstung Ausschau nach eventuellen Verfolgern. Er sah nur einige in Regenmäntel gehüllte Männer und Frauen, die noch beim Orbitallift standen, und die patrouillierenden Drohnen.
»Das macht es nicht weniger schlimm«, sagte Durrwachter.
»Das ist mir klar.« Wieder flackerte ein Blitz, riss die Gebäude des Lagers aus der Nacht und ließ die Fluten jenseits der Barriere noch bedrohlicher erscheinen. Auf der anderen Seite, im Süden, ragten die aus dem Fels gewaschenen Bauten der Ausgestorbenen auf, viele von ihnen so schwarz, dass sie den Eindruck erweckten, das Licht ihrer Umgebung aufzusaugen. Damit erinnerten sie Rahil an die in seinen Datenbanken enthaltenen Bilder des Artefakts auf Heraklon, und für eine Sekunde fragte er sich, ob eine Verbindung existierte. Aber das war praktisch ausgeschlossen. Diese Gebäude, beziehungsweise ihre Reste, stellten das Vermächtnis einer vor Jahrmillionen untergegangenen Hochkultur dar, und das Artefakt – der schwarze Oktaeder im hohen Norden von Heraklon – kam aus der Zukunft.
»Es muss eine Untersuchung stattfinden«, sagte Durrwachter und stemmte sich dem Wind entgegen, die eine Hand zum Hut gehoben, damit er nicht davonwehte. »Das ist das Mindeste, was Lucrezia verdient hat. Wir können sie nicht einfach begraben, ohne zu klären, unter welchen Umständen sie gestorben ist. Wir brauchen deine Aussage.«
»Ich kann nicht bleiben.« Rahil sah sich erneut um und glaubte, bei der transparenten Wand aus Polymeren und Synthmetall einen Schatten zu erkennen, der nicht dorthin gehörte. Als er eine genauere Sondierung mit den Sensoren der Rüstung vornahm, war der Schemen wieder verschwunden. »Mein Assistent und ich, wir
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