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Artefakt

Artefakt

Titel: Artefakt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Brandhorst
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Gesserat. »Oder bezieht sich Ihr Zorn auf die Erkenntnis, dass nicht zu helfen manchmal schwerer ist, als Hilfe zu leisten?«
    »Dummes Zeug«, zischte Rahil und starrte auf seine Fäuste. »Wie kann man einem Kranken keine Medizin geben?«
    »Das ist die falsche Metapher, Rahil Tennerit, und Sie sollten intelligent genug sein, das zu erkennen. Es geht hier nicht um Kranke, die geheilt werden müssen, sondern um Entwicklungstendenzen ganzer Spezies. Sie haben eben gefragt, wer die Entscheidungen trifft, und ich antworte: jene, die es besser wissen. Lassen Sie mich ein Bild benutzen, das weitaus angemessener ist. Warum entscheiden Eltern für ihre Kinder? Nicht deshalb, weil sie größer und stärker sind und den Kindern daher ihre Entscheidungen aufzwingen können. Sie entscheiden, weil sie über mehr Wissen und Erfahrungen verfügen und somit erkennen können, was für die Kinder gut ist. Warum haben Sie Sammaccan Waffen verweigert, die er sich für den Befreiungskampf in Munraha wünscht? Weil Sie wissen, wie viel Unheil er und seinesgleichen damit anrichten können. Sie mussten nicht einmal sehr mit sich selbst ringen, um sein Anliegen abzulehnen, obwohl Sie den Regeln der Ägide kritisch gegenüberstehen.«
    Woher weiß er das alles?, dachte Rahil und fragte sich, wie viel von ihm für den Gesserat offenlag.
    »Und deshalb verweigern Sie uns die Unsterblichkeit und alles andere?«, erwiderte er. »Weil Sie glauben, wir könnten Unheil damit anrichten?«
    Der Gesserat ächzte leise und stand auf. »Kommen Sie, Exekutor. Lassen Sie uns zwei, drei Schritte gehen, damit ich Ihnen das Universum zeigen kann.«
    Rahil stand plötzlich an der Seite des pelzigen Wesens, machte mit ihm zusammen einen Schritt durchs Gras … und glaubte sich plötzlich im Innern eines Spiegels der Welten, der aus Myriaden einzelner Facetten bestand. Jede noch so kleine Bewegung bewirkte einen perspektivischen Wechsel und zeigte ihm anstelle der glitzernden Stadtlandschaft ambientale Impressionen Tausender Planeten. Wüstenlandschaften erstreckten sich am Fuß des Hügels, der zum Fixpunkt in diesem wilden Tanz der Welten wurde, gefolgt von Wäldern aus großen, korallenartigen Bäumen, Seen aus jadegrünem Wasser und Bergen mit Lava speienden Vulkanschlünden, die Rahil für einen Moment an Caina und Meemken erinnerten. Nur ein Blinzeln war nötig, um das Wasser der Seen durch flüssiges Methan zu ersetzen, die Bäume durch Felsnadeln, auf denen sich Kohlendioxidschnee sammelte, und die Wüsten in Wolkenmeere von Gasriesen. Er sah Landschaften, die den Träumen Wahnsinniger entsprungen zu sein schienen, fühlte Hitze, die Metall verflüssigte, und eine Kälte, die alles erstarren ließ. Auf Hunderten von Welten – manche von ihnen wie Kedra in den Umlaufbahnen um alternde Rote Riesen, andere halb vergessen am Rand des Gravitationsfelds von Weißen Zwergen – sah er die Ruinen von Völkern, die kritische Momente in ihrer Entwicklungsgeschichte nicht überlebt hatten, und er teilte die Trauer der Gestalten, die dort zwischen in Trümmern liegenden Hoffnungen wanderten, vorbei am Schutt von Hochmut und Ignoranz.
    »Wir haben den Anfang und das Ende gesehen«, ertönte die Stimme des Gesserat. »Öfter als Sie zählen könnten.«
    »Warum helfen Sie dann nicht?« Die Worte sprangen von Rahils Lippen. »Warum sehen Sie all dem Leid tatenlos zu? Warum haben Sie Ihr Wissen nicht benutzt, um zu verhindern, dass jene Völker untergehen?«
    »Sie verstehen nicht«, erwiderte Zacharias. »Die Zivilisationen, die Sie gesehen haben … Sie sind untergegangen, weil wir versucht haben, ihnen zu helfen.«
    Stimmen flüsterten und schwollen innerhalb weniger Sekunden zu einem wahren Orkan, und Bilder begleiteten sie, zeigten ihm Millionen von Welten. Rahil schnitt eine Grimasse, hielt sich die Ohren zu und schloss die Augen, aber die Stimmen und Bilder füllten seinen Kopf, es gab kein Entrinnen. Er konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen und glaubte, den Verstand zu verlieren.
    Plötzlich herrschte wieder Stille, und warmer Wind strich ihm über die nackten Beine. Rahil öffnete die Augen. Er saß am weißen Tisch, dem Gesserat gegenüber, auf der Kuppe des Hügels, vor dem wie ein funkelnder Teppich die Polis lag.
    »Auch wir haben unsere Erfahrungen gemacht«, sagte Zacharias. »Auch wir haben gelernt. Damals, als wir weniger klug waren, wollten wir helfen, aber bittere Erfahrungen lehrten uns: Zu viel Hilfe kann ebenso schädlich sein wie zu wenig.

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