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Artefakt

Artefakt

Titel: Artefakt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Brandhorst
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Was Sie gerade erlebt haben, Exekutor: Hätten Sie es länger ausgehalten, auch nur für ein oder zwei Minuten?«
    Rahil schüttelte benommen den Kopf.
    »Und doch haben Sie nur einen Tropfen des Ozeans gesehen, der das Universum ist. Es war ein direkter Kontakt mit der Kosmischen Enzyklopädie, Exekutor. Woraus sich die Frage ergibt: Ist die Menschheit bereit? Wie kann sie bereit sein, wenn Sie, ein Exekutor der Ägide, nicht imstande sind, den unmittelbaren Kontakt auch nur ein paar Minuten lang auszuhalten?«
    Jahrmilliarden der Evolution trennen uns von den Hohen Mächten, dachte Rahil und versuchte, die Benommenheit von sich abzuschütteln. Von einem direkten Kontakt mit der Enzyklopädie ist nie die Rede gewesen, nur von einem Zugriff darauf.
    Er spürte den Blick des Gesserat, fühlte sich von ihm wie seziert, und als er diesem unermesslich alten Wesen in die Augen sah, regten sich andere Gedanken in ihm, vorsichtig, als wollten sie nicht entdeckt werden. Einer von ihnen raunte: Warum hat er mich nach dem Wind der Zeit gefragt, und nach Wahrheit und Lüge? Ein anderer wisperte: Er hat mehrmals Exekutor gesagt, anstatt meinen Namen zu nennen, als wollte er dieses Wort betonen. Könnte es sein, dass er …
    Rahil wagte es nicht, den Gedanken zu Ende zu denken.
    Mit einer Agilität, die gar nicht zu der massigen Gestalt zu pas sen schien, stand Jar Enhelian Gavira Enei Cropcor’al’Tentero az Halgewi alias Zacharias auf. »Damit ist unsere kleine Plauderei beendet. Ich möchte Sie nicht länger aufhalten.«
    »Warten Sie.« Rahil erhob sich ebenfalls. »Sie und die anderen Hohen Mächte … Sie sind in Raum und Zeit zu Hause, nicht wahr? Ich meine …«
    »Ich weiß, was Sie meinen, Exekutor . Dieses Universum hat uns vor langer Zeit geboren, aber wir haben seine Fesseln längst abgestreift. Wir bewegen uns frei durch Raum und Zeit.«
    »Dann wissen Sie um das Artefakt auf Heraklon Bescheid«, sagte Rahil und versuchte, einen Gedanken zu denken, ohne ihn zu denken.
    Aus dem warmen Wind wurde kalter, und er fror in seiner kurzen Hose und dem dünnen lindgrünen Kasack. Er fühlte, wie sich die Polis veränderte. Oder vielleicht änderte sich die Art und Weise, wie er sie wahrnahm: Die schimmernde Stadt dehnte sich aus, als der Horizont fortrückte, in unendliche Ferne, und der bis dahin silbergraue, leere Himmel füllte sich mit Gebäuden – die Perspektive weckte Erinnerungen an das alte Habitat über Kedra, und Rahil fragte sich kurz, ob sein Gehirn diese Verbindung herstellte, um etwas Abstraktes, das außerhalb seiner Erfahrung lag, vertraut erscheinen zu lassen. Aber dieser Eindruck des Vertrauten existierte nur an der Oberfläche, begriff er einen Sekundenbruchteil später. Er war wie der erste, oberflächliche Eindruck eines Fraktals, das den Anfang von etwas viel Komplexerem darstellte. Was er für Gebäude gehalten hatte – in der von Anthropomorphismus geprägten Annahme, dass die Angehörigen der Hohen Mächte wie Menschen etwas benötigten, in dem sie wohnen konnten –, waren in Wirklichkeit Zugänge und Passagen, hinter denen sich individuelle Welten verbargen, von den Primären und Sekundären nach ihrem Willen gestaltet. Die Poleis waren keine Städte in dem Sinne, sondern eher Treffpunkte oder Fokusse. Sie befanden sich dort – oder erschienen dort –, wo sich in den Ereignisstrukturen der Raumzeit gewisse Wahrscheinlichkeiten häuften und …
    Ein eisiger Windstoß traf Rahil, so heftig, dass er wankte und sich am Tisch festhielt.
    »Erstaunlich«, sagte der Gesserat leise und schüttelte wie ein Mensch den Kopf. »Bemerkenswert. Ich habe Sie in direkten Kontakt mit der Enzyklopädie gebracht, aber dies …« Er hob die Hand, wie um sich zu verabschieden.
    Rahil fühlte die Nähe des Geschosses, das der Ascar auf ihn abgefeuert hatte, und den auf ihn wartenden Transitschmerz. »Das Artefakt auf Heraklon«, wiederholte er, ohne den Gedanken ganz zu denken. »Sie wissen davon, nicht wahr?«
    »Ja.«
    »Sie haben darauf hingewiesen, dass Geschöpfe wie Sie nicht mehr an Zeit und Raum gebunden sind.«
    »Nicht an das, was Ihrer Vorstellung von Raum und Zeit entspricht. Wir sind Teil des Existierenden; wir bewegen uns innerhalb seiner Grenzen.«
    »Sie sind sehr alt«, sagte Rahil vorsichtig und jonglierte noch immer mit dem einen Gedanken. »Sie haben die Vergangenheit gesehen.«
    »Ja.«
    »Und die Zukunft? Sehen Sie auch die Zukunft?«
    »Es gibt nicht die Zukunft, Exekutor. Es gibt so viele

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