Artefakt
anderen und beobachtete das Geschehen mit einer Distanz, die sich nicht auf Meter beschränkte; im Geiste und mit seinen Gefühlen war er noch viel weiter ent fernt. Er sah, wie die eingeladenen hohen Gäste – Repräsentanten der anderen Großen Familien und Würdenträger aus Dymke – ihre Rivalität mit falschem Lächeln zu tarnen versuchten.
Manchmal glaubte er sich noch immer wie im Fieber. Er begann, hinter die Fassade zu blicken. Masken verrutschten, Schleier hoben und senkten sich, freundliche Gesichter wurden zu Fratzen. Wo lag die Wahrheit, wo die Lüge? Ließ sich beides überhaupt noch voneinander trennen, oder war es so ineinander verwoben, dass es gar keinen Sinn mehr hatte, Unterschiede machen zu wollen?
»Geht es dir nicht gut?«, fragte eine vertraute Stimme. »Wirst du wieder krank?«
Jazmine stand neben ihm, in einem weißen Kleid mit roten Schleifen an den Seiten. Es war das Kleid eines Kindes, und es schien nicht mehr zu ihr zu passen, trotz ihrer zehn Jahre.
Er saß hier allein, weil er eine Last trug. Weil er befürchtete, zwischen den anderen Leuten von ihr zerdrückt zu werden.
Jazmine sah etwas in seinem Gesicht, denn sie kam noch etwas näher und fragte: »Möchtest du mit mir reden?«
»Wenn es unser Geheimnis bleibt.« Rahil flüsterte fast. »Wenn du mir versprichst, es niemandem zu verraten. Niemandem .«
Jazmine nickte, zog sich einen Stuhl heran und nahm Platz.
Rahil erzählte ihr von dem dunklen, engen Tunnel, vom schmutzverkrusteten Fenster und dem Raum dahinter, von dem Mann, der beim Verhör gestorben war, und von dem Fremden.
»Er war kein Mensch«, sagte er leise. »Und er kam nicht durch eine verborgene Tür herein. In jenem Zimmer befand sich ein Kickout, und sein Licht hat mich krank gemacht.«
»Strahlung«, sagte Jazmine nachdenklich und ernst. Sie griff wieder nach ihrem langen schwarzen Zopf und streichelte ihn wie etwas, das Zuwendung brauchte. »So hat es Emily genannt. Strahlung. Aber hätte dann nicht auch Vater krank werden müssen?«
»Vielleicht war er geschützt«, sagte Rahil. »Da ist noch etwas, Jaz.« Für seine Schwester musste es den Anschein haben, dass es ihm schwerfiel, eine schreckliche Wahrheit auszusprechen, aber in Wirklichkeit rang er mit einer Lüge. Zumindest hier, glaubte er, ließ sich eine klare Trennlinie ziehen. »Ich habe gehört, wie Ruben und Vater über Emily sprachen. Als Darel und Ruben sie damals weggebracht haben …«
»Ja?«, fragte Jazmine.
»Vater hat ihnen befohlen, sie zu töten. Er hat Emily auf dem Gewissen, Jaz. So wie jenen Mann.« Und wie all die anderen, von denen du noch nichts weißt.
In wichtigen Dingen hatte Rahil seine Schwester noch nie belogen, und dies war wichtig. Trotzdem, er sah keinen anderen Weg. Manchmal, überlegte er, heiligt der Zweck tatsächlich die Mittel.
Jaz saß reglos da, das Gesicht plötzlich leer und bleich.
»Verstehst du jetzt, warum wir von hier fortmüssen?« Rahil versuchte, seine Stimme nicht zu drängend klingen zu lassen. Die Entscheidung fiel hier und heute, und der Rest ihres Lebens hing davon ab. Wenn eine Lüge nötig war, um ihnen zu helfen, den richtigen Weg zu beschreiten … Rahil war bereit, diese Schuld auf sich zu nehmen.
»Sie haben darüber gesprochen?«, fragte Jazmine leise. »Du hast es wirklich gehört?«
»So wahr ich hier sitze«, erwiderte Rahil und hob zur Geste des Eids Zeige- und Mittelfinger an die Lippen. »Ich schwöre es.« Er ließ die Hand wieder sinken. »Von jetzt an müssen wir Pläne schmieden, Jaz, verstehst du? Wir müssen sorgfältig planen, wenn wir Caina verlassen und zur Ägide gelangen wollen. Und wir müssen sehr vorsichtig sein, denn auch Vater und der Fremde haben Pläne, und ich fürchte, wir spielen eine Rolle darin.«
Lüge und Wahrheit,
Grandios vereint,
In dieser Welt ist nichts,
Wie es scheint.
Der Ring
23
Dies war der älteste Teil der Zitadelle, mit Mauern, in denen man den Atem der Geschichte hören konnte, wenn man nur richtig hinhörte. Rahil kam nicht oft hierher, denn an diesem Ort fühlte er die Last fremder Jahre. Große Porträts hingen an grauen Steinwänden, die all die Kriege des Dutzends überstanden hatten, und von ihnen blickten ernste Gesichter aus der Vergangenheit in die Gegenwart. So alt auch alles sein mochte, nirgends zeigte sich Staub. Jeden Tag sorgten die Bediensteten für Sauberkeit; es war, als hielten sie damit das Vergangene fest und lebendig.
Vor einem der großen Bilder blieben sie
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