Artefakt
Cambridge gab es immer eine etwas hochmütige Haltung, eine Einstellung, nach der das MIT »diese Technikerschule unten am Fluß« war, um die Worte eines um die Jahrhundertwende veröffentlichten Führers zu gebrauchen. Zur Vergeltung betrachteten die MIT-Wissenschaftler Harvard als eine altmodische, liberale Kunstschule, die alle Mühe hatte, auf dem laufenden zu bleiben. Zwar war es lange Her, seit ein Harvard-Professor des achtzehnten Jahrhunderts auf seinem vertraglichen Recht bestanden hatte, eine Kuh auf der Gemeindewiese von Cambridge zu weiden und sie bei schlechtem Wetter in seinem Wohnquartier zu halten, doch betrachtete sich Harvard immer noch als kreativer, exzentrischer und vor allem vornehmer als das MIT und seine mürrischen grauen Langweiler. Man hielt auf stilvolle Individualität. Sidney Coleman, ein berühmter Teilchenphysiker, hatte eine so verschobene persönliche Tageseinteilung, daß er auf das Ersuchen, um zehn Uhr vormittags ein Seminar zu halten, geantwortet haben sollte: »Tut mir leid, so lange kann ich nicht aufbleiben.«
Sergio Zaninetti, ein führender theoretischer Physiker, hatte vollen Anteil an dem Postulat innerlicher Harvard-Überlegenheit, die er nichtverbal durch beredtes italienisches Achselzucken, gehobene Brauen, Herabziehen der Mundwinkel und Blicke überlegener Skepsis vermittelte.
»Sie haben Ihre frühere Arbeit über Vielfache aufgegeben?« fragte Zaninetti ungläubig.
»Ich interessierte mich für Probleme der Festkörperphysik, simultane Integralgleichungen…«
»Aber Ihre Arbeit war doch wichtig!«
»Diese auch«, verteidigte sich John.
»Sie hätten bei der reinen, der schönen Arbeit bleiben sollen«, verkündete Zaninetti und zog energisch an einer Nazionali, die er sich eigens aus Italien schicken ließ. Er war untersetzt, mit einer gewölbten Brust und dichten blonden Haarbüscheln, die um seinen Hals aus dem Hemdkragen drängten. Sein schmales, blasses Gesicht, das im Persönlichkeitsprofil einer wissenschaftlichen Fachzeitschrift als »künstlerisch« bezeichnet worden war, kam nie zur Ruhe. Als John erwiderte, daß er sein Wissen erweitern wolle, verzog Zaninetti verdrießlich den Mund und blaffte: »Ein junger Mann muß sich konzentrieren. Wer nicht wagt, der nicht gewinnt!«
Darauf hielt er John einen fünfminütigen Vortrag über die Pflicht des Mathematikers – des Liebhabers des Reinen, des Idealen, des Ewigen –, seine besten Jahre der reinen, nicht angewandten Wissenschaft zu widmen. John zuckte die Achseln und ertrug Zaninettis nachdrückliche, anklagende Stimme. Es traf zu, daß Mathematik ebenso wie die Musik schon in jungen Jahren betrieben werden mußte. Die Fähigkeit, mit abstrakten Begriffen zu spielen und neue Wendungen zu finden, tief in Einheiten zu sehen, die nur im Geist bestanden – dies verlor sich rasch und ließ ein anwachsendes Inventar von Kenntnissen und Geschicklichkeiten zurück, aber weniger von der sprühenden Experimentierfreude, die sich einst so mühelos einstellte. John wußte dies so gut wie jeder Mathematiker, aber er kannte auch eine quälende Neugierde gegenüber angewandter Mathematik und, in letzter Zeit, auch der Physik. Im Leben jedes jungen Wissenschaftlers kam eine Zeit, da sich die bedrückende Gewißheit einstellte, daß er nicht der nächste Einstein war, daß er wahrscheinlich nicht einmal den Nobelpreis oder auch nur einen der geringeren Preise erringen, niemals eine aufsehenerregende neue Wahrheit entdecken oder eine fundamentale Einsicht in die Zusammenhänge des Universums enthüllen würde. Mit dieser deprimierenden Erkenntnis ging jedoch eine ausgleichende Freiheit einher. Selbst wenn man seiner Nase folgte und daran arbeitete, was einem am meisten Freude bereitete, blieb einem die großartige Gelegenheit, den Finger am Puls der Welt zu haben. John hatte jenen Wendepunkt der Selbsterkenntnis schon vor Jahren hinter sich gebracht, hatte sich an einem Wochenende gründlich und systematisch betrunken, und begann sich nun über Zaninettis arroganten Vortrag zu ärgern.
Eine Beantwortung hätte bloß mehr vom gleichen nach sich gezogen. Statt dessen verstärkte er seinen Südstaatenakzent und machte ein paar kleine Scherze, wobei er sich auf den langgezogenen, gerundeten Tonfall zur Auflockerung der Situation verließ. Es war ein praktisches Manöver unter diesen Leuten, die unausweichlich zu der Annahme gelangten, der Besitzer solch eines Akzents sei sicherlich ein wenig dickköpfig. Er schlüpfte
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