Artefakt
Gesichtsverlust war wie ein Stachel in seinem Fleisch.
»Ursprünglich«, sagte Claire beschwichtigend, »hielt ich es für eine kluge Taktik von Ihnen, Kontos gleich in eine politische Diskussion zu verstricken, bevor er eine Gelegenheit fand, sich nach Ihrem Tauchunternehmen zu erkundigen.«
Er notierte Zahlen und nickte. »Gewiß. Großartig. Dafür mußte ich es mir von diesem Scheißkerl zeigen lassen.«
Sie hockten vor den Instrumenten, und eine einsame Lampe warf scharfe Schatten auf die Vorderseite des Steinblocks. Sie waren eine Stunde zuvor, kurz nach Mitternacht, aufgestanden. Im Lager hatte sich nichts geregt, und sie waren leise hinausgeschlüpft und ohne Taschenlampen den vertrauten Pfad zum Grab hinaufgestiegen. Claire hatte einen der beiden Schlüssel zum Vorhängeschloß. Die Tür war aus frischen Holzplanken gezimmert und knarrte schrecklich, als sie geöffnet wurde.
Claire wollte sichergehen, daß seine Messungen bis zum Morgen abgeschlossen wären, falls sie keine weitere Gelegenheit bekämen, das Grab aufzusuchen. Während er die langwierige Routinearbeit der Analysen und dreifachen Überprüfungen durchführte, nagelte sie eine stabile Packkiste zusammen, die den Kalksteinblock aufnehmen sollte.
Als George ihn am Vortag mit Hilfe seines Systems von Seilen und Flaschenzügen emporgehoben hatte, waren sie alle von seiner Masse beeindruckt gewesen. Claire hatte immer wieder die Kantenlängen nachgemessen, erstaunt, daß sie mit 94,6 Zentimetern auf jeder Seite, mit kaum fünf Millimetern Abweichung irgendwo, so genau waren. Nun lag der Klotz auf dem vorbereiteten Packmaterial als Unterlage, und seine gedrungene schwärzliche Masse hätte in keiner Weise auffallend gewirkt, wäre nicht der feingearbeitete Bernsteinzapfen an der Vorderseite gewesen.
»Ich hoffe nur, sie hören unten im Lager unser Gehämmer nicht«, sagte John.
»Die Tür schluckt das meiste davon, glaube ich.«
»Dieses Herumschleichen gefällt mir nicht.«
»Bleiben Sie noch eine Weile dabei. Ich möchte nicht, daß Kontos von diesem Stück erfährt, bis ich Gelegenheit habe, Ihre Resultate zu sehen und zu überdenken.«
»Er wird den Klotz in einer Woche oder so in Athen sehen, sobald sie ihn dort auspacken.«
»Vielleicht nicht. Ich vermute, daß er zu sehr von seiner politischen Karriere in Anspruch genommen wird.«
»Wunschdenken. Jeder, der diese Kiste aufmacht, oder den Bericht sorgfältig liest…«
»Er ist noch nicht im Grabungskatalog.«
»Wieso?«
»Ich warte damit bis zum letzten Augenblick.«
»Ich muß sagen, Sie haben diese Sache ziemlich zielstrebig vorbereitet.«
»Den ganzen Sommer hindurch hat Kontos anzügliche Bemerkungen gemacht und versucht, kleine tête-à-têtes mit mir zu arrangieren. Damit nicht genug, übertrug er mir die langweiligsten, am wenigsten erfolgversprechenden Arbeiten. Ich werde es ihm heimzahlen.« Und sie schlug den nächsten Nagel so heftig ein, daß John zusammenschrak.
»He, nicht so laut!«
»Oh. Tut mir leid. Gibt es schon Ergebnisse?«
»Zu viele, das ist das Problem.« Er zeigte auf die Kurve des Oszilloskops, eine gelbe, von schmalen, steilen Ausschlägen unterbrochene Linie. »Dutzende von kleinen Emissionsspitzen. Jedes verdammte Element, das im Buch steht.«
»Metalle?«
»Jede Menge. Kupfer, Zinn, Zink, Indium…«
»Eine Legierung?«
»Wenn es eine ist, dann ist sie verdammt raffiniert.«
»Die alten Griechen wußten ziemlich viel über Metallurgie. Vielleicht erinnern Sie sich, wie Homer in der Odyssee das Abenteuer mit dem Riesen Polyphem schildert, den Odysseus und seine Gefährten betrunken machen? Dann blenden sie ihn, um aus der Höhle, wo er sie gefangenhält, zu entkommen. Homer gebraucht da einen interessanten Vergleich: Der im Feuer erhitzte Knüppel aus frischem Olivenholz dringt in das Auge des schlafenden Riesen, und dieses zischt, wie wenn ein kluger Schmied die Holzaxt aus der Esse in den kühlenden Trog wirft und härtet.«
»Ah, ein hübscher Vergleich«, sagte John unbehaglich.
»Aber wir können daraus ersehen, daß ein Schmied, der ein bearbeitetes Eisenstück in Wasser abfrischt, um es zu härten, für Homer schon eine vertraute Erfahrung ist.«
John sagte nichts, weil er nicht zugeben wollte, daß er nie etwas von Homer gelesen hatte. In den Naturwissenschaften hatte man keine Zeit, viel zu lesen, und wissenschaftliche Prosa war so gedrängt und kondensiert, daß die Lesegeschwindigkeit im Laufe der Jahre absank. Er konnte sich
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