Artefakt
bekommen, die Frau. Das sagte mir genug über die deutsche Mentalität.«
»Du meine Güte!«
Sie hatte es schon mehreren Männern erzählt, aber keiner von ihnen hatte sich wie John einfach zurückgelehnt, die Hände im Nacken verschränkt und gegähnt. Die anderen – ernste, scharfsinnige Cambridge-Typen – hatten sofort Verständnis und Unterstützung bezeugt. Nach diesem Lackmustest hatten sie jedoch alle entweder das Interesse verloren oder sie in dieser oder jener Weise abgewiesen. Sie war nie darauf gekommen, ob der Grund dieses Verhaltens an ihr oder an ihnen lag, doch war sie im Laufe der Zeit dahin gelangt, daß sie Männern mißtraute, die sofort bereitwillig ihre Position unterstützten und nach Hinweisen Ausschau zu halten schienen, welche Haltung sie einnehmen sollten, um ihre Billigung zu gewinnen. Johns Gleichgültigkeit – oder war es gar keine? – ließ sie im Zweifel.
Zwei Stunden später sahen sie die roten Arme von Santorin langsam aus der See emporkommen, um die Attika zu umarmen. Schichten grauer Asche, rötlicher Lava und weißlichen Bimssteins streiften die hohen Kliffs. Claire lehnte an der Reling und nahm die unglaublich intensiven Blautöne des Wassers in sich auf.
Durch den türkisfarbenen Schimmer kam ein Fischerboot mit rauhen Planken und einem bauchigen weißen Segel, dessen Bug in einer reinen, stolzen Kurve über sein geriffeltes Spiegelbild im Wasser dahinglitt. Sein Kapitän rief Befehle in einem rauhen, durchdringenden Bellen, das so alt wie die Seefahrt sein mußte.
Das Schiff glitt nahe der felsigen Erhebung von Nea Kaimeni vorüber, die in der Mitte der Bucht lag. Schwacher Schwefelgeruch kitzelte Claires Nase. Pechschwarze Lavablöcke lagen durcheinandergeworfen am Ufer, verstockt und drohend, die eckigen Flächen und Kanten vom Wellenschlag ungeformt.
»Ist das der Vulkan?« fragte John.
»Ja, der aktive. Die letzte große Eruption war 1956. Danach verließ die Hälfte der Bevölkerung die Insel.«
»Wie leben sie dort?« Er beobachtete mit zusammengekniffenen Augen das öde, felsige Land hoch über der Bucht.
»Vulkanische Asche ergibt fruchtbaren Boden. Und der Bimsstein wird exportiert. Sehen Sie diese Anlegebrücken, die ins Meer hinausführen? Dort werden Frachter mit dem Zeug beladen.«
Er wandte sich wieder dem zurückbleibenden niedrigen Profil von Nea Kaimeni zu. »Das sieht nicht gerade nach einem gefährlichen Vulkan aus. Wie groß ist der offene Krater?«
»Wir können später mit einem Motorboot hinüberfahren und ihn besichtigen. Aber wenn Sie die Caldera des ganzen Vulkans meinen – dies ist sie.«
»Nein, ich meine…« Dann verstand er. »Diese Bucht ist die Caldera?«
Sie nickte. »Die Explosion von 1426 v. Chr. jagte die Hälfte der Insel in die Luft. Das Datum läßt sich an Hand von Ablagerungsschichten, Fundstücken aus Holz und anderen Merkmalen errechnen, so zum Beispiel an den Wachstumsringen kalifornischer Grannenkiefern, die in der Höhenwüste der Gebirge viertausend Jahre überdauert haben. Sie zeigten in jenem Jahr verringertes Wachstum. Die vom Ausbruch in die Atmosphäre geschleuderten Staubmassen verringerten die Sonneneinstrahlung auf der gesamten Nordhalbkugel der Erde und verursachten einen kalten Sommer.«
»Dies alles… in Stücke geblasen?«
»Der alte Name für die ganze Insel bedeutete ›rund‹. Die Eruption riß mehr als die Hälfte der Insel fort. Jetzt ist sie sichelförmig.«
»Mein Gott, der Durchmesser beträgt acht oder zehn Kilometer, mit Leichtigkeit.«
»Es muß wie eine Wasserstoffbombe gewesen sein«, sagte sie. »Deshalb wollte ich hierher. Erinnern Sie sich an das Elfenbeinplättchen?«
»O ja. Sie meinen, es könnte eine Landkarte darstellen.«
»Wenn wir die Zeichnung verkehrt herum betrachten, dann stellt die große Landmasse unten Kreta dar. Santorin ist die einzige größere Insel im Norden, also stellt die rundliche Form weiter oben wahrscheinlich diese Insel dar.«
»Nach dem, an was ich mich erinnere, scheinen die Entfernungen nicht zu stimmen.«
»Das ist gut möglich; im Altertum kannte man keine genauen Vermessungsmethoden und berechnete die Entfernungen auf dem Meer nach Segelzeit, die von den vorherrschenden Winden abhängt. Im linken oberen Teil des Plättchens waren weitere, undeutliche Markierungen zu erkennen, die möglicherweise mit anderen Inseln übereinstimmen; die Lage ist ungefähr richtig. Sollte es sich tatsächlich um eine kartenähnliche Darstellung handeln,
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