Artefakt
eigentliche Palast?«
»Vermutlich. Man legte im Felsgestein Schachtgräber an, aber sie waren weder groß noch aufwendig. Die späten Gräber gleichen denen der mykenischen Griechen und sind ein Indiz für die Eroberung der Insel durch die Mykener.«
Sie stiegen breite Treppen hinab, gingen zwischen dicken, rotbraunen Säulen. Die Minoer, erzählte sie ihm, waren eine kleinwüchsige, schwarzhaarige Rasse.
»Sie wurde von den Mykenern unterworfen?«
»Ja, nach der zweiten Zerstörung dieses Palastes.«
»Aber ich dachte, die Athener seien die griechische Großmacht gewesen.«
»Ach nein, das war sehr viel später. Zu dieser frühen Zeit war Athen ein unbedeutendes Provinznest. Platon, Perikles – die lebten erst tausend Jahre nach dieser Zeit.«
»Aber Kreta lag offenbar im Konflikt mit den Athenern, und war es nicht der Athener Theseus, der den Minotauros tötete?«
»Nun, man muß sich klarmachen, daß die Geschichte von den Überlebenden geschrieben wird, das heißt, gewöhnlich von den Siegern. Die Geschichte vom Minotauros geht sicherlich auf eine mykenische Überlieferung zurück, nicht auf eine athenische. Die Athener übernahmen einfach die bestehende Legende.«
»Junge, kein Wunder, daß Henry Ford sagte, Geschichte sei Quatsch.«
»Wer einer Kulturnation angehören will, muß sich auch zur Geschichte bekennen«, erwiderte sie ein wenig gereizt. »Im übrigen ist es nicht wichtig, ob es Griechen aus Attika oder Mykene waren. Ein namenloser Held vom Festland kam hierher. Vielleicht war er ein berühmter Athlet, der den Todessalto über den anstürmenden Stier besonders gut beherrschte. Oder er war Spezialist im Erlegen gefürchteter Ungeheuer. Zu Haus wurden seine Abenteuer zu einer beliebten Geschichte, die von einer Generation zur anderen weitergegeben und ausgeschmückt wurde. Homer gebrauchte solche Überlieferungen.«
»Also ist der ganze Homer eine Sammlung von Märchengeschichten oder Übertreibungen?«
»So könnte man sagen, das ist natürlich noch längst nicht alles. Zum einen enthalten Homers Werke einen Kern historischer Wahrheit, wie zumindest im Fall der Ilias erwiesen ist. Zum anderen sind sie die ersten Zeugnisse schriftlich niedergelegter Überlieferung im abendländischen Kulturkreis, und schon dadurch von unschätzbarem Wert. Und schließlich – und das verdient am meisten Bewunderung – sind sie vollendete Dichtung von höchster Vollkommenheit, das Vermächtnis eines Genies.«
»Oh.«
Sie gingen zwischen Treppen und Säulenstümpfen und dachten über die Botschaft in den stummen Steinen nach. Claire schien unruhig.
»Sagen Sie mal, beobachten uns die Polizisten dort drüben?«
Claire schrak zusammen, blickte umher. »Was? Wo?«
Er schmunzelte. »Na, eben schauten sie noch herüber. Sie sind nicht so ruhig, wie Sie sich den Anschein geben.«
Sie warf ihm einen unfreundlichen Seitenblick zu. »Natürlich bin ich auch nervös. Fahren wir zurück in die Stadt!«
Am Nachmittag ging er noch einmal ins Museum, angezogen von seiner Atmosphäre. Selbst die Eintrittskarten waren ungewöhnlich, bedruckt mit Strichzeichnungen von Gelehrten und Staatsmännern des Altertums und Zitaten aus großen Werken der Vergangenheit. In den Glasvitrinen lagen die stummen Jahrtausende dem Auge dargeboten. Wie nie zuvor fühlte er vor dem Abgrund der Zeit das unwiederbringlich Verlorene, die vergessenen großen Werke und Taten zu Staub gewordener Menschen.
Aus einer der Vitrinen blickte ihn ein Stierkopf aus schwarzem Speckstein über die Jahrtausende hinweg an. Seine glänzenden Seemuschel-Nüstern waren zornig gebläht, und Augen aus Bergkristall und Jaspis betrachteten ihn unheilvoll. Der erklärende Text lautete: Rhyton aus dem Palast von Knossos. Das Fell ist durch Einschnitte geschickt imitiert. Der Stil und das verwendete Werkzeug legen einen Ursprung kurz vor der endgültigen Katastrophe nahe. Bei Homer finden sich Hinweise, daß Opferstiere vergoldete Hörner trugen. Die Hörner dieses Fundstücks sind nicht gefunden worden, waren aber wahrscheinlich aus vergoldetem Holz wie jene des berühmten Rhyton ähnlichen Typs, der in den Königsgräbern von Mykene gefunden wurde.
Der feindselige steinerne Blick schien ihm zu folgen, als er sich um den Stierkopf herumbewegte und die Ausführung bewunderte. Die in der Neuzeit hinzugefügten hölzernen Hörner waren kunstvoll geschwungen und mit Goldfarbe bestrichen. Sie glänzten im kühlen Licht des Museums, und er stellte sich vor, wie
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