Artefakt
dann ist ihr sicherlich bedeutsamstes Merkmal, daß Santorin annähernd rund eingezeichnet ist.«
»Ich verstehe.« John blickte sinnend über die weite, azurblaue Bucht. »Sie stammt also aus der Zeit, bevor der Vulkan diese Insel auseinandersprengte.«
»Sehen Sie jetzt, warum ich entschlossen bin, dieser Sache weiter nachzugehen? Die Katastrophe von Santorin hat mit großer Wahrscheinlichkeit zu der Legende des versunkenen Atlantis gehört, wohl auch zu manchen Mythen der frühen Griechen, zu allem.«
John nickte und entfaltete die Übersichtskarte von Santorin, die er vor der Abreise gekauft hatte. »Eine verdammt interessante Aufzeichnung, wenn es eine ist«, sagte er respektvoll.
Das Schiff ankerte unweit von den Kliffs. Die Deutschen drängten sich am Fallreep, grimmig entschlossen, unter den ersten zu sein, die in die kleinen Fährboote stiegen. Claire hatte das allgemeine Gedränge schon miterlebt und blieb bis zum letzten Boot an Deck. Sobald sie den Boden der Insel betraten, wanderten sie hinter dem Touristenschwarm den Kai entlang und hinauf zur Eselstation. Die Tiere trugen ihre menschlichen Lasten bemerkenswert rasch und sicher die Kehren des gepflasterten Weges hinauf, in Bewegung gehalten von schreienden und Schläge austeilenden Treibern. Wenn ihre Riemen auf den dichten, verfilzten Fellen der Tiere landeten, erhoben sich Staubwolken daraus. John stieß seinem Esel automatisch die Fersen in den Leib, überholte die lachenden und fröhlich rufenden Deutschen und handelte sich einen finster-vorwurfsvollen Blick von einem Fremdenführer ein.
Thira, eine verschachtelte kleine Stadt aus weiß und blau getünchten Würfelhäusern, bekrönte das Kliff. Andenkenläden säumten die gewundenen Gassen. Terrassen und Höfe waren so angelegt, daß die ständigen böigen Winde in enge Gassen abgelenkt und gedämpft wurden. Lange, mit Blütendolden behangene Zweige blauer Glyzinien schmückten Tore und Fassaden, blühende Winden überrankten Mauern und vereinten Nachbarhäuser. Scharlachrote Geranien lugten aus Fensteröffnungen und Mauernischen.
Claire hatte in dieser Insel immer die Verkörperung des griechischen Geistes gesehen. Die getünchten Häuser öffneten ihre Höfe dem durchbohrenden Sonnenlicht, offen aber unnachgiebig. Jedes der verschachtelten Häuser fügte der Herausforderung, die Thira über die schimmernde Bucht hinweg Nea Kaimeni zuschleuderte, etwas hinzu. Menschen waren wieder auf die Lavainsel zurückgekehrt und hausten unerschrocken auf dem alten Schlachtfeld, wo Gott Vulkanos einmal gewonnen hatte und zweifellos wieder gewinnen würde. Die Griechen waren immer zurückgekehrt, geschlagen aber unvermindert, ein schönes, aufragendes Testament zu machen, das in der ewigen Sonnenglut funkelte.
Das Hotel Atlantean war ein mit Baikonen besetzter Klotz, so nahe am Rand des Kliffs, daß es sich vorwärts zu neigen und den Abgrund mit seiner Kühnheit in Versuchung zu führen schien. Claire und John luden ihre Reisetaschen im Foyer ab, und verhandelten wegen Zimmern. Ja, es waren noch ein paar frei. (Hotelangestellte ließen immer durchblicken, daß man froh sein sollte, überhaupt noch etwas zu bekommen.) Nein, keins mit Aussicht auf, die Bucht. (Es sei denn, Sie wünschten mehr zu zahlen…?) Nun, wenn nur für einen Tag, ließ sich vielleicht etwas finden. (Die Saison war vorbei, und sie standen wahrscheinlich leer.) Der Mann an der Rezeption rümpfte die Nase, als sie verlangte, die Zimmer vorher zu sehen.
Sie waren untadelig sauber, und der Blick vom Balkon mit seinem Eisengeländer war herrlich. Während der Angestellte mit John in dessen Zimmer war und ihm die Aussicht erklärte, eilte sie den Korridor entlang zu dem Schild mit der Aufschrift NOTAUSGANG. Es gab eine Hintertreppe. Sie kehrte zurück und begeisterte sich gleichfalls für die Aussicht, um der Touristenrolle gerecht zu werden. John gab dem Mann ein Trinkgeld. Claire händigte ihm die Pässe aus und bat um baldige Rückgabe, damit sie in den Geschäften Reiseschecks einlösen könnten. Der Mann nickte knapp und ging. Anscheinend hatte ihn überrascht, daß ein amerikanisches Paar, das zusammen reiste, nicht auch zusammen schlief.
»Nicht gerade der liebenswürdigste Typ, wie?«
»Vielleicht hat die Touristensaison diese Leute erschöpft. Gewöhnlich sind die Griechen höfliche und aufmerksame Gastgeber. Ich liebe dieses Land, aber in den letzten paar Jahren…« Sie schüttelte den Kopf.
»Warum fragten Sie ihn nicht
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