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Arthur & George

Arthur & George

Titel: Arthur & George Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes
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die einem aufgezwungen wurde. Man unterdrückte ein Stöhnen, man log über seine Liebe, man betrog seine angetraute Ehefrau, und alles im Namen der Ehre. Das war das verfluchte Paradox daran: Um sich gut zu verhalten, musste man sich schlecht verhalten. Warum konnte er Jean nicht in den Wolseley setzen, mit ihr nach Staffordshire fahren, sich im Hotel als Mann und Frau eintragen und jeden, der die Augenbrauen hochzog, mit seinem Sergeant-Major-Blick niederstarren? Weil er das nicht konnte, weil es nicht ginge, weil es einfach aussah, aber nicht war, weil, weil … Als der Zug durch die Außenbezirke von Woking fuhr, dachte er mit stillem Neid wieder an den australischen Soldaten draußen im Veld. Nr. 410 , New South Wales Mounted Infantry, der regungslos dalag, und auf seiner Wasserflasche stand eine rote Schachfigur. Ein fairer Kampf unter freiem Himmel und eine gerechte Sache: Einen besseren Tod gibt es nicht. So sollte auch das Leben sein.
    Er geht zu ihrer Wohnung; sie trägt blaue Seide; sie umarmen sich herzlich. Es ist nicht mehr geboten, sich zurückzuziehen, aber auch, wie er merkt, nicht erforderlich; das Wiedersehen lässt ihn ungerührt. Sie setzen sich; es gibt Tee; er erkundigt sich nach ihrer Familie; sie fragt, warum er nach Birmingham fährt.
    Als er eine Stunde später noch immer beim Vorverfahren im Magistrates’ Court von Cannock ist, nimmt sie seine Hand und sagt:
    »Es ist wunderbar, lieber Arthur, dass deine Lebensgeister wieder zurückgekehrt sind.«
    »Deine auch, mein Liebling«, antwortet er und fährt mit seiner Geschichte fort. Er erzählt, wie zu erwarten, anschaulich und spannend; aber Jean ist auch gerührt und erleichtert, dass der Mann, den sie liebt, nun die Sorgen der vergangenen Monate abschüttelt. Doch als dann seine Geschichte beendet, seine Absicht erläutert, die Uhr gezückt und der Eisenbahnfahrplan nochmals konsultiert worden ist, ist ihre Enttäuschung offensichtlich.
    »Ich wünschte, Arthur, ich könnte mit dir kommen.«
    »Merkwürdig«, antwortet er und scheint sie dabei zum ersten Mal wirklich wahrzunehmen. »Weißt du, als ich im Zug saß, habe ich mir vorgestellt, wie ich mit dir an meiner Seite nach Staffordshire fahre, wir beide zusammen, wie Mann und Frau.«
    Er schüttelt den Kopf über diese Übereinstimmung, die sich womöglich durch die Fähigkeit zur Gedankenübertragung erklären lässt, wenn sich zwei Herzen derart nahe sind. Dann steht er auf, nimmt Hut und Mantel und geht.
    Jean ist deshalb nicht gekränkt – dafür ist sie allzu verliebt in Arthur –, doch als sie die Hände um die lauwarme Teekanne legt, wird ihr klar, dass ihre Position wie auch ihre künftige Position einige praktische Überlegungen erfordern. In den vergangenen Jahren war sie schwierig, sehr schwierig mit all den Arrangements und Zugeständnissen und der Heimlichtuerei. Woher dann die Annahme, mit Touies Tod würde sich alles ändern, und man würde sich unverzüglich im hellen Sonnenschein und unter dem Beifall von Freunden umarmen, während von Ferne englische Weisen herüberklängen? Einen solch plötzlichen Umschwung kann es nicht geben; und das Wenige, was ihnen an zusätzlicher Freiheit gewährt wurde, könnte sich als eher gefährlicher erweisen.
    Jean denkt inzwischen anders über Touie. Sie ist nun nicht mehr die unantastbare Andere, deren Ehre gewahrt werden muss, die scheue Gastgeberin im Hintergrund, die schlichte, sanfte, liebevolle Ehefrau und Mutter, deren Sterben sich so lange hinzog. Touies hervorstechende Eigenschaft war, wie Arthur ihr einmal erzählte, dass sie zu allen seinen Vorschlägen stets Ja sagte. Wenn sie auf der Stelle packen und nach Österreich aufbrechen mussten, sagte sie Ja; wenn ein neues Haus gebaut werden sollten, sagte sie Ja; wenn er für ein paar Tage nach London oder für mehrere Monate nach Südafrika fahren wollte, sagte sie Ja. So war sie nun einmal; sie vertraute Arthur vollkommen, vertraute darauf, dass er für sich selbst wie für sie die richtige Entscheidung träfe.
    Auch Jean vertraut Arthur; sie weiß, dass er ein Ehrenmann ist. Sie weiß ebenso – und das ist ein weiterer Grund, warum sie ihn liebt und bewundert –, dass er ständig in Bewegung ist, ob er nun ein neues Buch schreibt, sich für eine Idee einsetzt, um die Welt jagt oder sich in seine neueste Leidenschaft stürzt. Er wird nie zu den Männern gehören, deren Ambitionen sich auf eine Villa im Grünen, ein Paar Pantoffeln und einen Spaten für den Garten richten

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