Artikel 5
Angst haben.
Und dann hat er sie erschossen. Und … sie ist gestorben. Keinen halben Meter von mir entfernt. Ich weiß nicht einmal mehr, was danach passiert ist. Ich weiß nur, dass ich eine Woche in einer Zelle verbracht habe.«
Stille. Lange, erstickende Stille.
Ich fühlte, wie sich mein Hirn wand, wie es versuchte zu begreifen und zugleich die letzten dreißig Minuten einfach auszulöschen.
»Vielleicht hättest du mit dem Offizier reden können. Vielleicht hättest du ihm sagen können, dass sie das nicht verdient hat …« Meine Stimme hörte sich furchtbar kläglich an.
»Es hätte nichts geändert.«
»Das weißt du nicht! Du hast es ja nicht einmal versucht! Du hättest mit ihnen reden können, und … und … du hättest nie zurückkommen können … bei der Ausbildung hättest du nicht so … du … sein können! Du hättest uns sagen können, dass wir fliehen sollen!«
Ich kam mir so verrückt vor, wie ich mich anhörte.
»Ich weiß.«
Es war ein Gefühl, als krachte ein gefrorener Hammer an meinen Schädel. Ich kannte die Wahrheit, wie sehr es mir auch widerstrebte.
»Sie ist tot«, erkannte ich.
Er nickte. »Ja.«
»Du hast mich belogen. Du hast mich in dem Glauben belassen, dass sie noch lebt. Dass sie in einem sicheren Haus ist!«, schrie ich plötzlich. Jetzt war die Wut da. Heiß, grausam und giftig.
»Ich weiß.«
»Wolltest du mir je die Wahrheit sagen?«
»Das hätte ich, sobald ich dich von all dem fortgebracht hätte. Vielleicht nicht die ganze Wahrheit. Ich wollte nicht, dass du das alles erfährst. Niemand sollte das alles hören müssen.«
»Also kannst du das ertragen, aber ich kann es nicht? Sie ist meine Mutter, Chase!«
»Es war nicht, weil ich dachte, du würdest damit nicht zurechtkommen. Es war nur … ich weiß nicht. Ich wollte dir nicht wehtun.«
»Du hast also beschlossen, dass es besser für mich ist, an eine Lüge zu glauben, als verletzt zu werden. Wer gibt dir das Recht dazu?«
»Ich weiß nicht«, antwortete er aufrichtig. Offenbar hatte er wirklich nicht gewusst, was er tat. Seine Hände lagen offen vor ihm auf seinen Knien, als bettelte er geradezu um einen winzigen Hinweis darauf, welchen Weg er einschlagen sollte, einen Hinweis, an den er sich klammern konnte.
Ich war inzwischen in Fahrt. Wie ein Schneeball, der einen Hügel hinabrollt. Wohl wissend, dass am Ende eine Mauer wartete, an der ich zerschellen würde. An der ich in eine Million Teile zerspringen musste.
»Du hast das alles von Anfang an gewusst. Schon an dem Tag, als du mich aus der Schule geholt hast. Du hast gewusst, dass sie tot war. Du hast sie sterben gesehen. Und mir hast du es verheimlicht.«
»Ja.«
Schneller ging die Fahrt.
»Wie konntest du das tun?«
Er schüttelte den Kopf.
Etwas verdrehte sich in mir. Nichts ist wirklich.
»Du … du hast all diese Dinge gesagt … und … ich habe dir geglaubt.«
»Warte. Bitte. Das war die Wahrheit.« Inzwischen hörte er sich flehentlich an.
Aber ich schüttelte den Kopf. Es gab keine Wahrheit.
»Ember, ich liebe dich.«
Seine Worte schlugen Kerben neuen Schmerzes in meine Seele. Eine volle Sekunde lang starrte ich ihn nur entsetzt an, als mir bewusst wurde, dass er diese Worte noch nie zuvor ausgesprochen hatte. Und dabei dachte ich, dass womöglich das Gegenteil der Fall war. Dass Chase mich im Grunde hasste . Darum hatte er mich belogen. Darum tat er mir immer wieder weh. Wie konnte jemand nur so grausam sein?
Seine Augen schienen überzuquellen mit etwas, das ich früher für Aufrichtigkeit gehalten hatte.
»Ich hätte das nicht jetzt sagen sollen. Das ist zu viel. Ich bürde dir zu viel auf. Aber … Himmel. Ich meine es ernst. Ich …«
» Nein! Ich habe dir vertraut, und ich dachte, das wäre richtig, aber das war es nicht. Es war alles nur gelogen.« Mir wurde übel, und ich war von mir selbst angewidert. Am liebsten hätte ich meine eigene Haut abgestreift und hier in diesem schmuddeligen Zimmer mit all den hässlichen Wahrheiten zurückgelassen.
»Das stimmt so nicht. Das weißt du. Bitte , versteh das.«
Er streckte seine Hand nach meiner aus.
»Nein!«, heulte ich. »Rühr mich nicht an. Wage es nicht, mich anzurühren. Nie wieder.«
Ich schlug auf die Wand ein. Meine Welt brach zusammen. Alles, woran ich geglaubt hatte, lag in Scherben. War einfach nur falsch.
Ich dachte nicht nach. Ich konnte nicht. Ich schoss nur vor und schlug ihn mit aller Kraft. Dort, wo meine Hand Kontakt zu
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