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Artikel 5

Artikel 5

Titel: Artikel 5 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristen Simmons
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hervorspritzte und ihre dunkle Haut färbte. Ich hätte geschrien, hätte ich die Luft dazu gehabt. Nie in meinem Leben hatte ich gesehen, wie ein Mann eine Frau schlug. Ich wusste, dass Roy meine Mutter geschlagen hatte, ich hatte die Folgen zu sehen bekommen. Aber ich war nie Zeugin der Tat geworden. Das war brutaler als alles, was ich mir hätte vorstellen können.
    Und dann traf mich die Erkenntnis wie ein Schlag ins Gesicht. Wenn so etwas uns zustoßen konnte, den Mädchen in der Resozialisierung, was machten die dann mit den Leuten, die tatsächlich ein sogenanntes Verbrechen begangen hatten? Was hatte Chase uns angetan? Der Drang zu fliehen wurde noch stärker, und ich empfand mehr Angst um meine Mutter als je zuvor.
    »Sie ist verrückt«, hörte ich eine der Siebzehnjährigen sagen.
    » Sie ist verrückt?«, fragte ich ungläubig. »Hast du nicht gesehen, dass er …«
    Die Mädchen neben mir wichen schweigend zurück, als Ms Brock sich einen Weg durch die Menge bahnte. Sie starrte erst Rosa und dann mich an, und mir gefror das Blut in den Adern.
    »Dass er was, Liebes?«, fragte sie mich, die Brauen hochgezogen, ob herausfordernd oder aus purer Neugier konnte ich nicht erkennen.
    »Er … er hat sie geschlagen«, sagte ich und wünschte mir sogleich, ich hätte geschwiegen.
    »Und das garstige Kind besänftigt, Gott sei Dank«, ergänzte sie mit gespielter Erleichterung. Mein Mund wurde ganz trocken.
    Mehrere Sekunden lang musterte sie Rosa von oben herab, die spitze, kleine Nase hochgereckt, und schnalzte dabei mit der Zunge. »Banks, bringen Sie Ms Montoya bitte zum unteren Campus.«
    »Ja, Ma’am.« Der Soldat mit dem sandfarbenen Haar schob Rosa an mir vorbei, während ihr Angreifer zufrieden feixend zurückblieb. Ich versuchte, Rosas Blick zu erhaschen, aber sie schien benommen zu sein. Der satte, beißende Blutgeruch ließ eine Woge Galle in meiner Kehle aufsteigen.
    Und dann wandte sich Ms Brock leise summend ab und spazierte davon.
    Die nächsten Stunden verbrachten wir mit stiller Meditation. Unterricht nannten die das. Wie wir da auf den harten Holzstühlen saßen und lasen, bis wir schielten, während irgendwelche kuhäugigen Aufseherinnen gelegentlich einen Kommentar abgaben wie »Köpfe runter« oder »Gerade sitzen«.
    Ich hatte Angst um Rosa. Sie hatten sie nicht wieder zurückgebracht. Was auch immer mit ihr geschah, es erforderte eine Menge Zeit.
    Der Soldat, Banks, war zurückgekommen, und er und der schreckliche Randolph patrouillierten durch die Reihen, um jeden Gedanken an Flucht oder anderes Fehlverhalten bereits im Keim zu ersticken. Nun flüsterte keines der anderen Mädchen. Alle schienen erschüttert zu sein von den Ereignissen dieses Morgens und zeigten sich nun von ihrer besten Seite.
    Da mir niemand einen Seitenblick gönnen mochte, der die Verrücktheit der Situation hätte bestätigen können, las ich. Keine Fiktion wie Shelleys Frankenstein , nicht einmal etwas von Shakespeare, den wir im Englischunterricht gelesen hatten. Nichts, das mich in irgendeiner Weise aus dieser Hölle hätte hinauszaubern können.
    Wir lasen die Statuten. Ich hatte sie in der Schule bisher nur halbherzig gelesen, aber nun, da meine Augen wieder und wieder über die einzelnen Worte taumelten, wusste ich, sie würden von jetzt an für alle Zeiten in mein Hirn gebrannt sein.
    Artikel 1 verwehrte Einzelpersonen das Recht, eine andere Religion als die der Amerikanischen Kirche auszuüben oder zu propagieren. Das schloss offenbar auch das Fernbleiben vom Schulunterricht im Zuge des Pessach ein, wie es sich Katelyn Meadows hatte zuschulden kommen lassen.
    Artikel 2 untersagte alle sittenwidrigen Medien, und Artikel 3 definierte die »Heile Familie« als Gebilde, bestehend aus einem Mann, einer Frau und Kindern. Traditionelle männliche und weibliche Rollenbilder wurden in Artikel 4 gefordert. Die Untertänigkeit der Frau. Die zwingende Notwendigkeit für die Frau, ihrem Mann Respekt zu erweisen, während er im Gegenzug die Familie als Ernährer und geistiges Oberhaupt stützte.
    Wieder dachte ich an den ehemaligen Freund meiner Mutter. Roy war weder Ernährer noch geistiges Oberhaupt gewesen, und als ich nach einem wie auch immer gearteten Verbot häuslicher Gewalt suchte, fand ich nichts, nicht einmal in Artikel 6, der Scheidung ächtete, Glücksspiel und alles Mögliche andere von subversivem Gerede bis hin zum Besitz von Feuerwaffen. Wie erbärmlich vorhersagbar.
    Artikel 5 merkte ich mir. Kinder

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