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Artikel 5

Artikel 5

Titel: Artikel 5 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristen Simmons
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nur weil er sich von mir nicht die Richtung vorgeben lassen wollte. Aber dann schien ihm die Belanglosigkeit meiner Bitte bewusst zu werden, und wir schwenkten ab in Richtung Ambulanz.
    Der Warteraum war klein, steril und roch nach Reinigungsmitteln. Meine Schuhe quietschten auf dem glänzenden Boden, als wir an einem Schalter vorbeigingen, hinter dem eine brünette Schwester in der Bibel las. Sie blickte auf, stellte aber keine Fragen, als ich den kurzen Korridor hinunterging.
    Das, was ich suchte, fand ich auf dem Tresen einer Blutabnahmestelle zwischen einem Minikühlschrank und einer Plastikkiste mit Alkoholtupfern und Kunststoffspritzen. Ein Telefon. Mein Herz tat einen erwartungsvollen Satz.
    So lässig ich nur konnte betrat ich die Toilette und schloss die Tür, während ich mein Gehirn nach Möglichkeiten durchkämmte, die Schwester und meinen Wächter abzulenken. Ich musste nicht lange überlegen. Draußen ertönte ein Geräusch, laut genug, dass ich es durch die inneren und äußeren Wände hören konnte. Es war ein Kreischen, wie es Autos erzeugten, wenn man zu heftig auf die Bremse trat, und es stammte aus dem Nebenhaus, dem mit dem Feuerhydranten. Aber als das Geräusch erneut erklang, war ich nicht mehr so sicher, dass es nicht menschlichen Ursprungs war. Mein Herz schlug schneller. Mir war, als würde jemand mein Rückgrat umfassen. Ich zwang mich, mich auf meine Aufgabe zu konzentrieren.
    Ich öffnete die Tür einen Spalt weit und sah, dass sowohl Randolph als auch die Schwester in den Warteraum gegangen waren, also packte ich die Gelegenheit beim Schopf, sprintete um die Tür herum und in die kleine Nische, in der die Schwestern Blut abnahmen. Eine Sekunde später hielt ich das Telefon in der Hand.
    Ein Scharren auf dem Boden erschreckte mich. Ich sprang auf, wirbelte herum und sah, dass Randolph gerade einen halben Meter hinter mir war. Und mich anstarrte. Das Telefon prallte auf den Tresen.
    »Na los«, forderte er mich auf. Er hatte genau gewusst, was ich im Schilde führte.
    Ich spürte, dass das ein Trick war, dennoch war das Angebot zu verlockend, es einfach auszuschlagen.
    Ich packte das Telefon und hielt es ans Ohr. Etwas klickte, dann meldete sich ein Mann.
    »Haupttor, Broadbent hier.«
    Randolph feixte. Ich wandte mich ab.
    »Ja, können Sie mir eine Verbindung mit Louisville herstellen?«, fragte ich drängend.
    »Wer ist da?«
    »Bitte, ich muss raustelefonieren.«
    Eine Weile herrschte Stille.
    »Es gibt keine Leitung nach draußen«, sagte er dann. »Die Telefone sind nur für Verbindungen innerhalb der Einrichtung.«
    Meine Hände zitterten. Randolph entriss mir den Hörer und legte auf. Mit einem selbstgerechten Grinsen im Gesicht.
    Und über mich senkte sich ein Schleier der Hoffnungslosigkeit.
    Die Stunden vergingen. Randolph hatte mich nach meiner Nummer in der Ambulanz ganz genau im Auge behalten, und wenn mir auch erlaubt wurde, zusammen mit den anderen Siebzehnjährigen in die Cafeteria zu gehen, bekam ich dort doch nur Wasser. Kein Mittagessen. Kein Abendessen. Den anderen beim Essen zusehen zu müssen, war eine Qual, aber ich weigerte mich, Randolph oder Ms Brock oder Rebecca zu zeigen, wie sehr ich mich plagte.
    Ich hatte schon früher längere Zeiträume ohne etwas zu essen durchgehalten. Während des Krieges, bevor die Suppenküche aufgemacht hatte, war das vom Staat bereitgestellte Mittagessen in der Schule die einzig verlässliche Mahlzeit gewesen. Drei Viertel davon hatte ich stets eingepackt: die Hälfte für meine Mom, den kümmerlichen Rest – vielleicht ein Apfel, ein Päckchen Erdnussbutter oder Cracker – aß ich zum Abendessen. Der nagende Hunger, den ich nun empfand, erinnerte mich an die Tage, an denen ich vor dem Waschbecken im Badezimmer meine Rippen gezählt hatte.
    Gepeinigt überlegte ich, was meine Mutter heute wohl gegessen haben mochte. Ob sie ein Sandwich bekommen hatte – sie mochte Sandwiches – oder etwas, wie es die Suppenküche ausgab. Um meiner geistigen Gesundheit willen verbannte ich all das aus meinem Kopf, aber sofort machten sich andere verbotene Gedanken breit.
    Chase. Die gleiche Frage, immer und immer wieder. Wie konnte er nur? Er kannte uns schon sein ganzes Leben lang. Ob er, nachdem er mir versprochen hatte, er würde zu mir zurückkommen, je auf die Idee gekommen war, dass das am Ende so aussehen könnte?
    Aber das war ja das Problem: Er war nicht zurückgekommen. Nicht wirklich. Dieser Soldat vor meiner Tür war ein Fremder

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