Artikel 5
»Und, wo ist sie dann? Hat sie gar keinen Prozess bekommen? Haben sie sie ins Gefängnis geworfen? O Gott, hat man ihr wehgetan?«
»Vergiss das Atmen nicht«, sagte er leise.
»Chase! Du musst mir erzählen, was los ist!«
Er hatte dunkle Schatten unter den Augen, die ich mir nicht erklären konnte. Nun blickte er zur Seite, als könnte sich die Antwort irgendwo im Blattwerk verstecken. Dann strich er sich mit einer Hand durch das schwarze Haar. Allmählich regte sich bei mir ein ganz mieses Gefühl in Erwartung dessen, was er sagen würde.
»Ich habe ihr versprochen, dass ich dich da raushole.«
»Du hast …«
»Mein kommandierender Offizier denkt, ich würde bei einer Revision in Richmond helfen.«
Ich wusste nicht, was eine Revision ist, und ich begriff auch nicht auf Anhieb, warum Chase hier war, obwohl er doch woandershin befohlen worden war. Das ergab alles keinen Sinn.
»Ist sie immer noch im Gefängnis?« Ich kam mir vor, als würde ich am Rand einer Klippe stehen, kurz vor einem furchtbaren Sturz.
»Nein.«
Viel zu langsam fügten sich die Teilchen in meinem ungeduldigen Hirn zusammen. Meine Mutter war frei. Ich war frei. Rebecca und Sean hatten recht. Es gab keine Prozesse mehr. Und was Chase anging …
»Du bist kein Soldat mehr. Du bist auch auf der Flucht.«
»Man nennt das unerlaubte Abwesenheit«, sagte er tonlos.
Ich starrte ihn an und dachte daran, was Rebecca mir über Sean erzählt hatte, dass die MM ihn als Abtrünnigen behandeln würde, sollte er je fortgehen. Chase hatte sich selbst zum Vogelfreien gemacht, weil er mich da rausgeholt hatte. Meine Mutter hatte ihn gebeten, sein Leben für mich aufs Spiel zu setzen. Doch ich konnte nicht darüber nachdenken, was das bedeutete und ob er vielleicht doch gar nicht so schlimm war. All meine Gedanken kreisten um sie und um die Frage, ob wir frei waren und ob wir nun mehr oder weniger in Gefahr waren, als ich bisher angenommen hatte.
Plötzlich trat Chase auf die Bremse und bog scharf nach rechts auf einen verborgenen Weg ab, der mir gar nicht aufgefallen wäre, hätte er ihn nicht angesteuert. Jenseits eines Vorhangs aus tief hängenden Zweigen erreichten wir eine Lichtung, wo ein alter Ford-Truck aus den Siebzigern stand. Der weinrote Lack löste sich blasenförmig von der seitlichen Verkleidung und das Trittbrett war verzogen und von orangefarbenem Rost zerfressen.
Mein Blick fiel auf meine gefesselten Handgelenke. Wenn Chase mich zu meiner Mutter bringen wollte, warum war ich dann immer noch gefesselt? Warum hielten wir auf einer verlassenen Lichtung, mehrere Meilen von der Hauptstraße entfernt? Mir wurde zunehmend bewusst, wie isoliert wir hier waren. Früher hatte ich ihm vertraut, aber nach allem, was ich in der Reformschule erlebt hatte, hielt ich es nicht für eine gute Idee, allein mit einem Soldaten zu sein.
»Wenn sie frei ist, warum sagst du mir das dann nicht einfach?«
Er hörte das Zittern in meiner Stimme und sah mich an. In seinen Augen verbarg sich ein Abgrund wohl gehüteter Emotionen.
»Falls es dir nicht aufgefallen ist, die Straße, auf der wir waren, ist eine Hauptverkehrsachse des FBR . Jeder dieser Soldaten hätte uns anhalten können, hätte er irgendeinen Verdacht gehegt.«
Ich dachte daran, wie konzentriert er gefahren war, wie er jedes vorüberkommende MM -Fahrzeug gemustert und mich zum Schweigen aufgefordert hatte. Das hatte er aus Angst getan. Wurden wir erwischt, stand sein Leben auf dem Spiel.
Einen Moment später griff er in seine Hüfttasche und zog ein großes Klappmesser hervor. Angespannt pumpte ich Luft in die Lunge. Für einen Moment hatte ich vergessen, dass dies Chase war. Ich sah nur eine Waffe und eine Uniform, und ehe ich einen klaren Gedanken fassen konnte, rissen meine Finger trotz der Fesseln am Türgriff, doch die Tür ging nicht auf. Meine Kehle war wie zugeschnürt, dennoch löste sich aus ihr ein leiser Aufschrei.
»Hey. Ganz ruhig. Ich will nur die Handfessel durchschneiden«, sagte er. »Jesus, wer denkst du, bin ich?«
Ja, wer, dachte ich, war er? Jedenfalls nicht Randolph, der sich darauf freute, mich im Wald zu ermorden. In der Sekunde, in der es vollbracht war, riss er die Hände weg und entriegelte meine Tür von seiner Seite aus. Dann rieb ich mir die Handgelenke und zwang mich, ruhiger zu atmen.
Einen Augenblick später war er ausgestiegen, und ich blieb in einem Nebel tiefer Verwirrung zurück.
Schließlich sprang ich hinaus und folgte ihm zu dem Truck. Meine
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